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Vom fleischessenden Fitness-Freak zum Frutarier

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Voglio Mangiare CosìFoodSociety

Verbotene Frucht? Kennt Mees Vullings nicht: Der junge Niederländer ernährt sich ausschließlich von Obst und will andere motivieren, es ihm nachzutun.

Die Adoption eines streunenden Kätzchens sollte das Leben von Mees Vullings für immer verändern. Alles begann vor etwas über einem Jahr, als der 23-Jährige mit seiner veganen Freundin zusammenlebte. In seiner Wohnung in Leiderdorp blickte er eines Tages hinab auf seinen kleinen vierpfotigen Gefährten und erkannte, dass nichts einen Sinn ergab. „Warum sollte ich diesem Tier meinen ganzen Respekt und meine Liebe geben und dann andere Menschen Tiere für mich töten lassen?“ Über Nacht wurde Fleischesser Mees zum Veganer - eine Entscheidung, die wegbereitend für seine aktuelle Ernährungsform war, den Fruitarismus.

Labels, Glauben und Steve Jobs

Mees lebt nach wie vor in Leiderdorp, einem kleinen Dorf in den westlichen Niederlanden mit 27.126 Einwohnern. Der Ort liegt in der Nähe von Den Haag, wo Mees Kunsttherapie studiert. Das Gebäude, in dem Mees lebt, ist voller junger Leute, die seine Essgewohnheiten teilen oder zumindest eine ähnliche Denkweise haben. Mees spricht mit bedächtiger, tiefer Stimme, als würde er jedes Wort vorsichtig abwägen, bevor er es herauslässt. Sein Körper ist mit Tattoos verziert und sein langes blondes Haar kräuselt sich, je näher es an die Ohren reicht. Der Versuch, Mees in eine Schublade zu stecken, ist sinnlos. Er ist gleichzeitig Musiker, Kunsttherapeut, liebt Yoga und Tattoos, ist eine Art Raw-Food-Guru auf Instagram - und eben Frutarier. Mees selbst hält nichts von Labels: „Ich habe mich von Labels verabschiedet, denn ich finde, dass sie uns dazu bringen, uns auf eine bestimmte Art zu verhalten. Ich möchte einfach so frei wie möglich sein.“ Okay. Doch der Einfachheit halber nennen wir Mees trotzdem: Frutarier.

Die Frutarier-Diät ist ein Zweig des Veganismus, einer Ernährungsform, die sämtliche tierische Produkte ausschließt. Sogenannte „Roh-Veganer“ sind Veganer, die nur pflanzliche Rohkost essen (nicht über 48°C erhitzt). Im Grunde genommen sind Frutarier also Roh-Veganer, die - nun ja - Früchte essen. Die Offenbarung, die Mees dank seiner Katze hatte, geht einher mit einem größeren Glaubenssystem, welches mit diesen Ernährungsformen verknüpft ist: Nämlich, dass Menschen nicht höherwertig sind als Tiere oder die Natur. 

Wenn man „Frutarier” bei der Google Bildersuche eintippt, bekommt man eine Vielzahl an schönen Menschen präsentiert, die neben farbenprächtigen Obstbergen posieren. Ihre Haare glänzen, die Haut ist zart und rein, sie sind perfekt gebräunt und zeigen betonte Muskeln. Wie Mees auch tendieren sie zu einem ganzheitlichen Lebensstil, der Yoga und Meditation als fundamentale Wege zum „spirituellem Wachstum“ vorsieht.

Was man bei der Suche auch findet, sind ein paar Bilder von Ashton Kutcher und Steve Jobs. Jobs war bekannt dafür, einer fruchtbasierten Ernährung zu folgen. Als Kutcher für die Rolle im Jobs-Biopic Jobs (2013) ausgewählt wurde, tat er es ihm gleich. Nur wenige Tage vor dem Drehstart wurde Kutcher mit Pankreas-Problemen ins Krankenhaus eingeliefert. Ob das nun der Beweis dafür ist, dass eine reine Obst-Diät zu monoton ist oder auch nicht: Mees jedenfalls tangiert die Diskussion kaum. Anders als seine Entscheidung, vegan zu werden, war seine Reise zum Fruitarismus ein stetiger Prozess und geschah nicht über Nacht.

„Ich war der größte Fleischesser überhaupt“

Mees wuchs in einer Familie auf, die nicht besonders darauf achtete, was auf den Tisch kam. „In meiner Familie gibt es keinen einzigen Vegetarier. [Als ich jünger war] sagten sie mir, ich solle brav mein Gemüse essen. So, wie Eltern das eben tun. Aber sonst nichts“, erklärt Mees. Noch vor drei Jahren stand Mees total auf Fitness und Bodybuilding. Er aß täglich Fleisch und Milchprodukte, ohne jemals die Auswirkungen auf seine Gesundheit in Frage zu stellen. Er fühlte sich gut damit. „Ich war einfach der größte Fleischesser überhaupt“, gibt er zu. Dann kam die Streunerkatze.

Als Mees seinen Eltern mitteilte, dass er entschieden habe, vegan zu leben, glaubten sie ihm nicht: „Sie waren überzeugt, dass ich wieder Fleisch essen würde“. Als er drei Monate später erzählte, dass er nun zu einer fast reinen Obst-Ernährung übergegangen sei, dachte seine Familie, er hätte komplett den Verstand verloren. Die Reaktionen seiner Freunde und Bekannten waren ähnlich. Von allen Seiten hörte Mees ständig, wie sehr er sich verändert habe und dass er nicht mehr der Mensch sei, den sie gekannt hätten. Der junge Niederländer sieht das anders: „Ich habe mich als Person nicht verändert. Ich habe einfach nur angefangen, mich auf andere Dinge zu konzentrieren.“

Während seiner Zeit als Bodybuilder, gibt Mees zu, habe er sich wie eine Art Zombie gefühlt. Sein Übergang vom fleischessenden Fitness-Freak zum Veganer und letztendlich zum Frutarier passierte schrittweise. Alles begann Sinn zu ergeben, als Mees erkannte, dass er immer mehr Energie hatte, je mehr Obst er aß. Zu Beginn fühlte er sich manchmal „wie dauerhaft auf Ecstasy“. Aber es war eigentlich nie seine Intention, Frutarier zu werden - es war eher wie ein Unfall, der darauf wartete, zu passieren. Natürlich im besten Sinne. „Schlussendlich aß ich fast nur noch Obst und ich fühlte mich immer besser.“ Während sein Übergang zum Veganer ethisch motiviert war (die Katze), beruhte seine Entscheidung für eine rein fruchtbasierte Ernährung hauptsächlich auf „gesundheitlichen Gründen“. Plus: „Obst schmeckt gut“.

Obst-Philosophie und Dr. Morse

Mees‘ persönlicher Wandel zum Frutarier tat ihm so gut, dass er nun auch andere inspirieren will, sich der Bewegung anzuschließen. Der 23-Jährige wünscht sich nicht nur, „dass sich Menschen ihrer Entscheidungen bewusster und allgemein liebevoller und freundlicher sind“, sondern er ist auch der Meinung, dass „Obst die geeignetste Ernährung für unsere Spezies“ ist. Laut Mees sind Menschen ideal dafür gebaut, Obst zu pflücken, zu essen und zu verdauen. Er findet es „seltsam“, dass Menschen ihr Essen kochen, während alle anderen Tiere dieser Erde ihre Nahrung roh verspeisen. Der Student glaubt auch, dass wir immer nur eine Frucht nach der anderen essen sollten, und das „ohne Gewürze und Zeug“, ganz so wie es die meisten Tiere tun.

Diese akribische Ernährungstheorie hat Mees aber nicht alleine entwickelt. Nachdem er sich ein paar Minuten darüber ausgelassen hat, was Menschen essen sollten und was nicht, erwähnt er einen gewissen Dr. Morse, dessen Arbeit er schon seit einiger Zeit verfolgt. Mees erklärt, dass Dr. Morse ein Amerikaner in seinen 60ern sei, der einen Gesundheitsclub sowie einen YouTube-Kanal betreibe. Mr. Morse heile seit 45 Jahren Menschen mit lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs nur mit Früchten und Kräutern. „[Dr. Morse] setzt die Leute auf eine reine Obstdiät, mit ein paar Kräutern zur Unterstützung der Organe, und damit kurieren sie jedes Leiden aus. Es ist nicht so, dass sie die Nahrung an sich heilt, aber sie bringt den Körper dazu, sich selbst zu heilen“, erklärt der Frutarier. „Das ist der Grund, warum Medizin nicht funktioniert. Sie kann Symptome nur unterdrücken, aber sie kann nichts heilen.“ Die Arbeit von Dr. Morse, sagt Mees, gebe ihm „die Sicherheit, das richtige zu tun.“

Wenn sich all das etwas fragwürdig anhört, dann, weil es fragwürdig ist. Dr. Morse stellt sein ganzes Wissen und seine Erfahrungen aus seinem Gesundheitsclub in kostenlosen YouTube-Videos zur Verfügung. In diesen Videos sitzt der Gesundheitsguru in einem bequemen Sessel an seinem Schreibtisch, darauf lose verteilte Dokumente - ganz so, als hätte ihn die Kamera gerade zufällig beim Recherchieren erwischt. Er trägt einen dicken, akkurat gestutzten Schnurrbart und volles graues Haar. Hinter ihm hängt ein großes abstraktes Herz-Gemälde, daneben eine Sammlung von indigenem Krimskrams. Die bis zu einer Stunde langen Videos behandeln alles, angefangen von „Gehirn-Problemen und Parkinson“ bis „Ayahuasca und Borreliose“. Mees ist völlig überzeugt von Dr. Morse: „Ich finde das einfach großartig. Viele Gesundheitsgurus verlangen anständige Summen Geld, aber er nicht.“ Wie sein Vorbild strebt auch Mees danach, ein „aufgeschlossener, spiritueller und freier Mensch“ zu werden.

„Manchmal esse ich 18 Tage lang nur Wassermelonen“

Der Winter kann in den Niederlanden hart sein. Monate vergehen ohne einen einzigen Sonnenstrahl, und die hohe Luftfeuchtigkeit lässt die Kälte tief in die Kleidung und Knochen kriechen. Mees‘ Ernährung ist das, was ihn am Laufen hält. Er kauft sein Obst in türkischen Supermärkten, weil diese eine größere Auswahl an exotischen Früchten bieten und auch oft günstiger sind als normale Läden. In der kalten Winterzeit ist der 23-Jährige süchtig nach Cherimoyas. Sie sind ungefähr so groß wie eine kleine Cantaloupe-Melone und haben eine grüne, schuppige Schale. Um sie zu essen, erklärt der Spezialist, muss man sie halbieren oder schälen, um das weiße Fruchtfleisch herauslöffeln zu können, das ziemlich nach Frozen Yogurt schmeckt.

An einem typischen Wintertag isst Mees vier bis fünf Cherimoyas pro Mahlzeit. Er nimmt sein erstes Mahl gegen 12 Uhr mittags ein, das Frühstück lässt er meistens aus. Im Gegenteil zu dem, was die Google-Bildersuche beim Schlagwort „Frutarier“ anzeigt, gibt es in den Niederlanden keine Berge von Obst, aus denen man wählen könnte. Deshalb ergänzt Mees seine Ernährung in den kälteren Monaten um Rohkost-Salate. Dazu trinkt er Unmengen an Tee, bis zu zwei Liter pro Tag.

Im Sommer passt Mees seine minimalistische Ernährung an das vorhandene Angebot an. Sobald es wärmer wird, wird auch das Obst-Angebot in den umliegenden Supermärkten größer. Mees‘ Ernährung wechselt dann von Cherimoyas und Bananen zu Pfirsichen und Wassermelonen. Er trinkt dabei fast kein Wasser: „Manchmal esse ich 18 Tage lang nur Wassermelonen und denke nicht einmal daran, Wasser zu trinken“, erzählt er mit unbeeindruckter Miene.

Auf die Frage nach den Umweltauswirkungen des hohen Konsums importierter Produkte reagiert Mees gelassen: „Ich esse hauptsächlich Obst aus Spanien, also ist der [ökologische Fußabdruck durch den Transport] nicht so gravierend. Ich könnte regional essen und das wäre besser, aber ich fühle mich nicht so gut damit. Alles, was hier angebaut wird, sind Äpfel, Birnen und Beeren. Die geben mir nicht so ein gutes Gefühl“. Mees ist sich der Umweltauswirkungen seiner Obst-Ernährung bewusst. Doch er gibt sich nicht als Moralapostel und glaubt, dass eine positive Einstellung mehr bewirkt, als wenn er regionale Produkte essen würde: „Wenn ich mich so richtig gut fühle, kann ich viel mehr Positives in diese Welt ausstrahlen. Das kann einen riesigen Effekt auf viel mehr Menschen haben. Ich fühle mich besser, und dadurch fühlen sich andere Menschen auch besser.“ Mit 19.500 Followern auf Instagram wird da wohl etwas dran sein.

Bis Instagram und noch viel weiter

Mees nutzt seinen Instagram-Account zur Verbreitung seiner Philosophie und seines Lifestyles. Mit den endlosen Bildern farbenfroher Obstplatten, frischer Säfte und roh-veganer Gerichte könnte Mees jeden glauben machen, dass er auf einer tropischen Insel lebt. Unter jedem Foto informiert Mees, was darauf zu sehen ist und erklärt gerne auch mal im Detail Geschmack und Textur seiner Mahlzeiten. Eine beachtliche Instagram-Gefolgschaft zu haben, sagt Mees jedoch, sei nie seine Intention gewesen: „Ich habe damit angefangen, weil ich mich so danach fühlte, und plötzlich ging es ab. Die Leute begannen, alles zu liken, was ich schrieb, weil ich nicht nur Obst-Sachen postete. Ich schrieb mir viel von der Seele; Dinge, die die Leute benutzen konnten, um sich weiterzuentwickeln. Es geht um spirituelles Wachstum, Persönlichkeitsentwicklung, Yoga und so weiter. Die Leute lesen das gerne, schätze ich.“

Auch wenn er mit seinem Instagram Account tausende Menschen auf der ganzen Welt berührt hat: Mees zieht es momentan nirgendwo hin. Mit seinem laufenden Kunsttherapie-Studium, seinem Streuner-Kätzchen und seiner gemütlichen Wohnung in Leidendorp wird der 23-Jährige das holländische Klima wohl noch etwas länger ertragen müssen. Doch das hält ihn nicht vom Träumen ab. „Wenn wir einfach überall auf der Welt Obstbäume pflanzen würden, dann hätte jeder zu essen. Warum tun wir das nicht? Wenn das der Fall wäre, würde ich nicht in den Niederlanden leben. Ich würde gehen, wohin ich will und würde mir da ein Haus bauen oder unter einem Baum schlafen. Es ist eigentlich egal. Solange es die Früchte umsonst gibt…“, sagt er und grinst bei dem Gedanken. Wer weiß: Vielleicht finden wir ihn in ein paar Jahren Kokosnuss-schlürfend unter einer Palme in der Karibik, wo er mit seinem Smartphone in der Hand Fotos vom ultimativen Frutarier-Traum in die Welt schickt.

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Voglio Mangiare Così zeigt, was auf den Tellern des Alten Kontinents so los ist. Welche alternativen Ernährungsformen gibt es unter jungen Europäern? 8 Wochen - 8 Porträts.

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Translated from From meat-eating fitness freak to fruitarian