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Verschwundene Flüsse und Melting Pot Parties aus Athen

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KulturLifestyle

Wer die Athener nach dem Kifissos fragt, hört meist nur Legenden. So ging es auch Yvonne Senouf und Corinne Weber, den kreativen Köpfen der internationalen Kunstplattform MELD, als sie Project Nero ins Leben riefen: eine Kunstaktion für einen verschwundenen Fluss, um sich kreativ mit Urbanisierung und Umweltverschmutzung auseinander zu setzen.

„In der antiken griechischen Mythologie waren die Flüsse Götter und daher unglaublich heilig. Heutzutage sind sie nur noch Müllkippen.“ Wenn Yvonne beginnt, über das Schicksal des Kifissos zu reden, merkt man ihr an, wie sehr sie Athen liebt – aber auch unter der Stadt leidet. Ich treffe sie und Corinne in ihrer Wohnung im Athener Stadtteil Pangrati, unweit des Panathinaiko Stadions und des Stadtparks. „Der Kifissos ist in jedes einzelne Problem verwickelt, mit dem sich Athen von der Antike bis heute auseinandersetzen musste“, fügt Yvonne hinzu.

Dies sind die Überreste vom ehemaligen Kifissos in Athen Im Zuge der Olympischen Spiele 2004 zubetoniert, sei heute vom Kifissos nichts mehr zu sehen. Das gehe sogar soweit, dass der Fluss mittlerweile nur noch ein urban myth sei. Sein Verschwinden ist aber nicht nur ein ästhetisches Problem, sondern hat auch ganz konkrete Folgen, wie etwa einen Temperaturanstieg und eine schlechtere Luftqualität in den betroffenen Gebieten. Während Yvonne und Corinne im kollektiven Gedächtnis der Athener nach der Quelle des Kifissos gruben, wurde die Idee zum Project Nero geboren als erste Kunstaktion der neugegründeten interaktiven Kunstplattform MELD, auf der Künstler, Wissenschaftler und Aktivisten in unterschiedlichsten Projekten „verschmelzen“.

Paris, New York, Athen: Wiege eines Kunstprojekts 2.0

Vor der Haustür rauscht der Verkehr vorbei, aber Yvonnes mit indischen Blumengirlanden dekorierte Wohnung nimmt sich dank des kleinen Gartens wie eine grüne Oase aus. Vor zwei Jahren fing alles an, als Corinne, die als Creative Director mit Sam Mendes und Alejandro González Iñárritu zusammengearbeitet hat, zwischen New York und Paris ihre Balance wieder finden wollte.

Gründer der Kunstplattform und "Lebensphilosophie" MELDEin Telefonat später saß Yvonne, Creative Concepts Producer und gerade erst nach Athen gezogen, mit im Boot. Skype machte das gemeinsame Brainstorming möglich, an dessen Ende MELD stand: „MELD ist nicht nur eine Kunstplattform, sondern auch eine Art Lebensphilosophie, bei der es um Zusammenarbeit und das Teilen von Ideen geht. MELD soll Leute durch Kultur zu Veränderungen inspirieren. Wir setzen uns mit dem Klimawandel auseinander, aber auf einer Gefühlsebene und in einer Sprache, die jeder versteht.“

MELD ist also nicht einfach nur eine elitärer Club, in dem ein paar handverlesene Künstler Geld für Multimediainstallationen aus dem Fenster werfen dürfen, sondern eine Vision mit einer klaren politischen und sozialen Agenda: „Es geht uns um Ideen und nicht darum, viel Geld zu verdienen. Natürlich fangen wir klein an, aber eigentlich ist es egal, ob wir nun 20 oder 50 Leute sind, solange wir etwas verändern wollen.“ Corinne nennt das in Anspielung auf den Kifissos den „Welleneffekt“, der mit sporadischen kurzen Kunstaktionen beginne und schließlich ein ganzes Land verändern könne.      

„Kultur ist die Basis von Veränderungen, sozusagen ein Katalysator für sozialen Wandel und Wirtschaftswachstum.“

Aber ist es nicht eher an Politik und Wirtschaft, die Umweltkrisen des 21. Jahrhunderts zu lösen? Yvonne und Corinne sehen das anders: „Kultur ist die Basis von Veränderungen, sozusagen ein Katalysator für sozialen Wandel und Wirtschaftswachstum. Kunst kann eine neutrale Plattform sein, auf der sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Schichten austauschen können. Und es geht um die Kraft des Bildes: Warum werden wir immer nur von Bildern bombardiert, die uns zum Konsum anstacheln, und nicht von poetischen Aufrufen, die uns Mut machen, unser Leben zu verändern?“

Kunst kann Leben verändern – und tot geglaubte Flüsse wiederbeleben

Project Nero [νερό bedeutet „Wasser“; A.d.R.] ist daher vor allem eine Kunstaktion on the ground, die in den letzten Monaten gewaltige Wellen geschlagen hat. Begonnen hat das ganze in Berlin mit ein paar Zeichnungen und Filmen des deutschen Künstlers Alexander Schellow zum Thema „Wasser“. Auf Yvonnes und Corinnes Einladung hin ist er nach Athen gekommen und hat Hunderte von Stunden entlang des früheren Flusslaufs des Kifissos verbracht. Die Erinnerung an diese mit allen Sinnen erfahrene Umwelt rekonstruierte Schellow, wieder in Berlin, durch minutiöse, pointillistisch anmutende Zeichnungen, die er schließlich zu kurzen Animationsfilmen zusammenfasste: „Das Zeichnen ist dabei ein Mittel des Erinnerns und verändert auch meine Sichtweise auf bestimmte Orte,“ meint Schellow.

Außer Alexander Schellow arbeiten auch noch die griechischen Künstlerinnen Danae Stratou und Maro Michalakakos am Project Nero mit. Stratou hat vor Kurzem die NGO Vital Space Projects gegründet, die gleichzeitig Kunstprojekte unterstützt und das Umweltbewusstsein der Griechen fördern will.Den Austausch mit Menschen, meistens Einwanderern aus Albanien und Bangladesh oder Roma, denen Schellow am Ufer des Kifissos begegnete, empfindet er als genauso wichtig wie die Gespräche mit Wissenschaftlern, Politikern und Soziologen. „Die eigentliche Arbeit ist der Prozess, das Verbinden von Positionen und isolierten Gesellschaftsschichten.“ Schellow sieht sich nicht als klassischer environmental artist, sondern interessiert sich eher allgemein für die menschliche Interaktion mit räumlichen Strukturen, was nicht nur die Umweltfrage sondern auch die Migrationsthematik miteinbeziehe. Daher organisieren Yvonne und Corinne jetzt auch immer häufiger kleine melting pot parties in Immigrantenvierteln entlang des Kifissos, bei denen Albaner, Roma, Kenianer und Griechen zusammen kommen und sich gegenseitig bewirten.

Umweltbewusste Installationen und melting pot parties

Da Schellows Zeichnungen und Filme vor Ort am Fluss entstanden sind, wollten Yvonne und Corinne sie auch dort zeigen. Doch die Krise hat den beiden vorerst einen Strich durch die Rechnung gemacht. In Zeiten katastrophaler Staatsverschuldung und sozialer Unruhen könne man nicht einfach Unsummen für teure Filmprojektionen verschleudern, meint Yvonne. Auch das ist der Einfluss von Umweltbewusstsein auf die Kunst: „Wir wollen mit der Gesellschaft interagieren und konkrete Taten sehen, nicht nur schöne Reden. Im Moment reden alle nur und nichts passiert. Dabei ist das doch genau die beste Zeit, um Ideen, Träume und Visionen in die Tat umzusetzen!“ erklärt Corinne. „Wir wollen keine Eintagsfliegen sondern Werke, die überdauern.“

Das Project Nero lebt vor allem in den Neraki Workshops weiter, in denen Kinder aus ganz unterschiedlichen ethnischen und sozialen Schichten Schellows Animationsfilme anschauen und eigene Werke zur Kifissos-Thematik schaffen. „Wir wollen nicht, dass alle denken wie wir, schließlich ist MELD ja keine Ideologie, sondern eine gewisse Offenheit für Veränderungen.“ Nicht mehr und nicht weniger haben sich Yvonne und Corinne zum Ziel gesetzt. Dem Kifissos hat es gut getan: Auch wenn er weiterhin unter Beton und Schnellstraßen vor sich hinplätschert, können sich ein paar Athener jetzt wenigstens wieder an ihn erinnern.

Dieser Artikel ist Teil der cafebabel.com Reportage-Reihe Green Europe on the ground 2010-2011.

Fotos: Titelbild (cc)Flóra/flickr; Im Text (cc)CoreTechX/flickr; Porträt von Yvonne und Corinne privat; Video: Youtube; Zeichnung: Alexander Schellow