Verschnufte EU-Begeisterung der Türkei
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Die Türkei betrachte die EU als eine Art Diät-Trainer, erklärte am Wochenende ein hochrangiger Vertreter der regierenden AKP vor einer Gruppe von Journalisten. Ein interessantes Bild, wenn man es einmal zu Ende denkt.
Der Gedanke, dass die EU-Anwartschaft eine gesundheitsförderliche Wirkung hat, ist keineswegs neu oder überraschend. Die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei führt seit einiger Zeit die These im Schlepptau, der Verhandlungsprozess habe der Türkei bereits unzählige Besserungen beschert, und zwar ganz unabhängig davon, wie die Frage der Mitgliedschaft am Ende entschieden werde.
Worum geht es aber? Um den Weg oder das Ziel?
Viele Etappenziele wurden bereits erreicht. Die Türkei hat in den vergangenen Jahren einen großen Reformeifer an den Tag gelegt. Fraglich ist jedoch: Warum ist dieser Eifer in jüngster Zeit erlahmt?
Von Seiten türkischer Politiker lautet die Antwort darauf in der Regel – zumindest gegenüber europäischen Journalisten –, die türkische Bevölkerung und mithin die politische Riege sei von der EU enttäuscht, es gebe momentan wenig Anreiz, die Reformen mit dem gleichen Eifer weiter zu verfolgen. Stellt sich nur die Frage: wofür – oder besser: für wen – eigentlich der ganze Aufwand in der Vergangenheit? Um den Europäern einen Gefallen zu tun? Das kann es ja wohl nicht sein. Jedenfalls wäre das kaum im Sinne der Erfinder.
Europa ist ein gutes Rezept. Demokratie ist gut. Souveränität ist gut – und im Staatenbund besser. Diesen Standpunkt vertrat am Wochenende jener AKP-Repräsentant, der mit seinen zwei Kindern zwar nicht ganz ins Parteischema passt, mit einer Ehefrau ohne Kopftuch aber so manches besorgte Gemüt beruhigt. So passt es wieder. Tatsächlich wirkt, angesichts der multikulturell aufgestellten Partei, der Vorwurf einer „hidden agenda“ absurd. Hoffentlich ist dies auch bis in die Wählerschichten durchgedrungen.
Auf der nicht mehr parteipolitischen Zugehörigkeitsebene schmieden sich unterdessen neue, durchaus überraschende Koalitionen. Z. Damla Gürel, ehemals CHP-Abgeordnete und leidenschaftliche Stöckelschuhträgerin, die ihrem ehemaligen Parteivorsitzenden Deniz Baykal ein paar Mal zu heftig Contra gegeben hat und deshalb bei der letzten Wahl nicht mehr aufgestellt wurde, ist seit einer Woche die EU-Beraterin des Staatspräsidenten Abdullah Gül, ehemals Außenminister der AKP. Wenn hier tatsächlich Meinungen aus verschiedenen Lagern zusammenfließen, ist das zweifelsohne zu begrüßen.
Der Weg der Türkei nach Europa ist – nach Ansicht der AKP-Oberen sowie zahlreicher EU-Vertreter in Brüssel – gesund. (Ungesund wäre nach der Auffassung einer großen Mehrheit auf allen Seiten hingegen, wenn die Verhandlungen zu einem abrupten Ende kämen. Für diesen Fall gibt es verschiedene Schreckensszenarien: die Türkei islamisiert oder russifiziert sich, Europa wird grauhaarig und arbeitet daran, dem Anklageruf des „Christenclubs“ gerecht zu werden.)
Das Konzept „Diät“ beinhaltet jedoch, dass man sich beschneidet, vorübergehend auf etwas verzichtet. Eine ausgeprägte Vorliebe des oben genannten AKP-Politikers für eine metaphernreiche Sprache lässt darauf schließen, dass er auch jenes Bild zu Ende gedacht hat. Dann wäre seine Vision von Europa eine, in der die Türkei – durch europäische Prinzipien gestärkt, jung und ökonomisch dynamisch – eine starke, unabhängige Macht neben der EU darstellen wird. Eine Kur endet schließlich im Normalfall nicht damit, dass man den Diät-Berater ehelicht. Wird die Türkei aber den EU-Diät-Plan auch nach Abschluss der Verhandlungen weiter einhalten?
In den Augen einer europäischen Beobachterin in der Türkei verstärkt sich jeden Tag mehr der Eindruck, dass die Türkei längst nicht mehr in die EU will – der Ehrgeiz zielt inzwischen darauf, das Angebot zum Beitritt zu bekommen. Fertig.
Genau deshalb lautet die entscheidende Frage: was will die Türkei – und was tut sie möglicherweise nur deshalb, damit die Verhandlungen schneller zu einem Abschluss kommen? Wenn der Reformeifer tatsächlich deshalb erlahmt ist, weil die EU in der Türkei offensichtlich Missfallen ausgelöst hat, die Türkei sich nicht mehr willkommen fühlt, könnte dies in der Tat ein Gesundheitsrisiko für Europa darstellen. Dann wäre erst einmal zu diskutieren: was will die Türkei eigentlich selbst, tief im Inneren ihres Herzens?
Dorte HUNEKE