Participate Translate Blank profile picture
Image for „Unsere Wut ist so schwarz wie die Kohle"

„Unsere Wut ist so schwarz wie die Kohle"

Published on

Politik

Zwei Wo­chen vor dem Mi­nen­un­glück im tür­ki­schen Soma, wurde ein An­trag auf Si­cher­heits­über­prü­fung ge­stellt und von der Re­gie­rungs­par­tei AKP ab­ge­lehnt. Die Wut der De­mons­tran­ten ist nun groß. Was für po­li­ti­sche Kon­se­quen­zen zieht Soma mit sich? Das Zwi­schen­fa­zit mit einer Po­li­to­lo­gin und einem Do­ku­men­tar­fil­mer.

Tou­ris­ten un­ter­hal­ten sich an einem Sams­tag­abend in Is­tan­bul häu­fig so: „viel­leicht ist das ein biss­chen zu ge­fähr­lich, lass uns doch lie­ber nach Hause gehen." Es ist ein schwü­ler Sams­tag­abend im Mai, Is­tik­lal Street. Die Stra­ße führt von Is­tan­buls Tak­sim Platz bis zu Tünel, dem äl­tes­ten Seil­bahn­sys­tem Eu­ro­pas. Von dem lässt man sich vor allem an hei­ßen Tagen gerne vom Bos­po­rus­ufer aus nach oben zie­hen.

Jetzt aber haben sich in einer Sei­ten­stra­ße Po­li­zei­ko­lon­nen auf­ge­baut. Rau­chend und sicht­lich oder ge­spielt ge­lang­weilt, war­tet die Trup­pe. Heute sind nicht wie am Mitt­woch noch Tau­sen­de auf die Is­tik­lal ge­kom­men, nein, nur eine klei­ne Grup­pe. Dann: Die ers­ten Schüs­se Trä­nen­gas, Ge­schrei, Ge­joh­le. Den Tou­ris­ten wird die Ent­schei­dung ab­ge­nom­men: nach Hause sol­len sie gehen, schreit der Kom­man­deur.

Mi­che­lan­ge­lo Se­ver­gni­ni (39) be­ob­ach­tet die Szene sehr genau. Er hebt seine Augen unter sei­nen roten Haa­ren her­vor und sagt: „Das ist ja auch mein Job." Mi­che­lan­ge­lo ist Mu­si­ker und Do­ku­men­tar­fil­mer, kommt aus Ita­li­en und lebt seit 2008 immer mal wie­der hier, in der 14-Mil­lio­nen Stadt. Sein letz­ter Film „The Rhythm of Gezi", han­delt von den De­mons­tra­tio­nen im Mai und Juni 2013 in Is­tan­bul.

Was Mi­che­lan­ge­lo weiß ist, dass er vor­sich­tig sein muss, wenn er, wie heute, zu den Pro­tes­ten geht. Es ist un­ge­wiss was pas­siert, wenn die Po­li­zei ihn er­wischt. Das Land möch­te er nicht ver­las­sen. Des­we­gen ver­sucht er, am Rande der De­mons­tra­tio­nen zu blei­ben, auch wenn heute nicht viel los ist.

Das ver­wun­dert. Viel mehr Men­schen hätte man nach dem Gru­ben­un­glück in Soma er­war­tet. Die Vor­ge­schich­te ist be­ängs­ti­gend: 2012 wurde das Koh­le­berg­werk in Soma pri­va­ti­siert, wor­auf­hin dras­ti­sche Kos­ten­sen­kun­gen folg­ten. Noch zwei Wo­chen vor der Ex­plo­si­on, woll­te die Op­po­si­ti­ons­par­tei CHP wis­sen, warum vor allen Din­gen bei der Si­cher­heit der Ar­bei­ter ge­spart wurde. Doch ihr An­trag wurde von Recep Tay­yip Erdoğans Re­gie­rungs­par­tei AKP ab­ge­lehnt.

Ein­fach Schick­sal

Vor allem aber Erdoğans öf­fent­li­che Re­ak­tio­nen scho­ckie­ren: Als „Schick­sal", das „über­all auf der Welt" hätte vor­kom­men kön­nen, be­zeich­ne­te er das Un­glück. Bei dem Be­such der Un­glücks­stel­le, trat dann der Par­la­men­ta­ri­er und Erdoğan-Ver­trau­te Yusuk Yer­kel auf einen De­mons­tran­ten ein. Erst nach hef­ti­gen Pro­tes­ten ist Yer­kel ei­ni­ge Wo­chen spä­ter zu­rück­ge­tre­ten.

Cansu Ek­mek­ciog­lu (27) ist dar­über ent­setzt. Sie ist die Prä­si­den­tin der NGO JEF der Tür­kei. Au­ßer­dem forscht sie an der Ga­la­ta­sa­ray Uni­ver­si­ty in Is­tan­bul über so­zia­le Netz­wer­ke und po­li­ti­sche Be­we­gun­gen und hat viele Dead­lines ein­zu­hal­ten. Fra­gen be­ant­wor­tet sie aber aus­führ­lichst per Mail.

„Kei­ner trat zu­rück, noch nicht mal eine öf­fent­li­che Ent­schul­di­gung für Soma wurde aus­ge­spro­chen. Ich glau­be nicht, dass die noch kom­men wird. Die Kos­ten po­li­ti­scher Ak­tio­nen wer­den in die­sem Land ein­fach nicht be­zahlt. Die AKP hat immer noch ihre treu­en An­hän­ger und Erdoğan ist noch immer ihr be­lieb­ter Füh­rer." Einen Füh­rungs­wech­sel bei den Prä­si­dent­schafts­wah­len im Au­gust hält sie un­wahr­schein­lich.

Die Po­li­zei­trup­pen ste­hen nun über­all. Ein Meer aus Uni­for­men und Ple­xi­glas­schutz. Mi­che­lan­ge­lo sagt:

„Das Wich­tigs­te ist dein Ge­sicht. Wenn du wie ein Tou­rist wirkst, tun die dir nichts. Wenn du dich aber hin­stellst und Fotos ohne Pres­se­aus­weis machst, geht es dir wie dem da." Er zeigt auf einen Pas­san­ten, der sein Smart­pho­ne auf die Po­li­zis­ten rich­tet. Er wird bei den Armen ge­packt, damit er sei­nen Aus­weis vor­zeigt.

Bevor Mi­che­lan­ge­lo auf die Frage, ob die So­ma-Pro­tes­te ein „neues Gezi“ dar­stel­len könn­ten, ant­wor­tet, atmet er lange aus.

„Das würde ich nicht so sagen. Im Ver­gleich zu Gezi, wo es ur­sprüng­lich um die Ab­hol­zung des Parks in Is­tan­bul ging, ist Soma weit weg. Frei­lich sind ein paar Bäume nichts gegen über 300 Men­schen­le­ben, aber es geht dabei viel­mehr um die Sym­bo­lik. Du gehst hier auf die Stra­ße, nicht um gegen die­sen Vor­fall selbst zu pro­tes­tie­ren, son­dern weil du gegen etwas Grö­ße­res de­mons­trierst und weil sich deine Wut Tag für Tag wei­ter auf­bauscht."

Hoch­ge­bil­de­te, welt­of­fe­ne, junge Leute gehen

Viele Leute hal­ten es in der Tür­kei nicht mehr aus. Man­che sind auch be­reit, Eu­ro­pä­er zu hei­ra­ten, um so leich­ter an ein Visum zu kom­men. Cansu be­stä­tigt das:

„Ja, das stimmt, das habe ich auch aus mei­nem Um­feld ge­hört. Vor allem hoch­ge­bil­de­te, welt­of­fe­ne, junge Leute wol­len das Land ver­las­sen, weil sie sich po­li­tisch nicht ver­tre­ten füh­len. Für sie wird alles un­er­träg­lich, ge­ra­de mit dem zu­neh­mend au­to­ri­tä­ren Ton der Re­gie­rung. Viele sind sehr pes­si­mis­tisch, was die Zu­kunft be­trifft. Es macht wirk­lich Angst, eine solch ge­teil­te Ge­sell­schaft hier zu haben."

Mi­che­lan­ge­lo be­schreibt die Pro­tes­te als „ein Spiel, das nicht nur von der Tür­kei ge­spielt wird." Er be­schreibt die Pro­tes­te als „ein in­ter­na­tio­na­les Phä­no­men. Die Tür­kei ist ein so wich­ti­ges Land im Mo­ment: Wegen des Sy­ri­en­kriegs, wegen des Mitt­le­ren Osten, und wegen der Im­mi­gra­ti­on von Osten nach Eu­ro­pa. Ur­sprüng­lich waren die Pro­tes­te si­cher spon­tan, aber in­zwi­schen fin­det eine welt­wei­te Mo­bi­li­sie­rung an Un­ter­stüt­zern statt. Das klingt für mich ko­misch. Sehr lange hat sich kei­ner für das Land in­ter­es­siert und seit einem Jahr reden wir nur noch von der Tür­kei. Lei­der macht das die Kon­flik­te in­ner­halb des Lan­des nicht leich­ter."

Spä­ter geht er zu­rück in seine Woh­nung im Stadt­vier­tel Tar­la­başi, un­ter­halb der Is­tik­lal. In sei­ner Stra­ße grü­ßen ihn die La­den­be­sit­zer. Bunte Wä­sche flat­tert vor Er­ker­fens­tern. Wenn man genau hin­schaut, merkt man, dass das Haus ein wenig schief steht. Bei einem Glas Çai sagt er: „Si­cher ist mein Name ir­gend­wo im Sys­tem der Re­gie­rung und der Po­li­zei ab­ge­spei­chert. Aber ich bin ein klei­ner Fisch. Die las­sen mich in Ruhe, bis sich mich viel­leicht ir­gend­wann brau­chen. Ich habe nichts zu ver­ber­gen. Die Re­gie­rung hat viel mehr zu ver­ste­cken."