Ungarn: Orbanistan oder die Übertreibung ausländischer Medien
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Monika SchreiberErinnern wir uns an die Berichterstattung der internationalen Presse über die Unruhen in den französischen Vorstädten im Jahr 2005: das Reißerische trug den Sieg über den tatsächlichen Informationsgehalt davon. Was soll man also über die Medien sagen, die nach Inkrafttreten der ungarischen Verfassung am 1.
Januar 2012 die Regierung von Viktor Orban als „faschistisch“ bezeichnen und sogar auf einen Ausschluss Ungarns aus der EU spekulieren? Für einige Ungarn entspringen solche Äußerungen einem Zerrbild oder gar einem völligen Unverständnis der Geschichte ihres Landes. Für andere hingegen trifft die internationale Presse – allen Übertreibungen zum Trotz – den Kern von größeren Sorgen.
„Man zeichnet ein sehr seltsames Bild von Ungarn“, findet Judit, 22 Jahre und ungarische Medizinstudentin in Straßburg, in Anbetracht der Darstellung ihres Landes in den internationalen Medien. „Das ist echt traurig. Wenn ich ausländische Zeitungen lese, erkenne ich mein eigenes Land nicht wieder“. Tatsächlich verkündet die Presse seit den autoritären Entgleisungen von Orbán und den Revisionen von Gesetzestexten, die als freiheitsfeindlich eingeordnet wurden, genüsslich: „Willkommen in Orbánistan“, „Viktor Orbán oder der postmoderne Faschismus“…
Es scheint, als hätten die europäischen Medien – indem sie den Autoritarismus des aktuellen ungarischen Präsidenten anprangern – mit der (ebenso heiklen) Vergangenheit aufgeräumt. Auch nach der kommunistischen Epoche und der Übergangszeit von 1989 sind zahlreiche kommunistische Spitzenpolitiker an der Macht geblieben, was eine gewisse Monopolisierung der Exekutive vermuten ließ. Dazu kommt die berühmte Aufnahme des sozialistischen Premierministers Ferenc Gyurcsány vom Jahr 2006, auf der er unverblümt zugab, dass er bezüglich der wirtschaftlichen Situation des Landes gelogen hatte, um seine Wiederwahl nicht zu gefährden. In Judits Augen greift Orbáns Politik genau dort: „Die Regierung von Viktor Orbán legte eine neue Verfassung fest, um aufzuzeigen, dass die Zeit der politischen Schwäche nun beendet ist“.
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen
Bei näherer Betrachtung der neuen ungarischen Verfassung erkennt man gar, dass die internationalen Medien keinen Anlass haben, Ungarn als „autoritäres“ Regime zu bezeichnen. Das neue Grundgesetz macht die kommunistische Version von 1949 obsolet und schafft eine Basis für Demokratie. Zudem sind die Länder der EU weit davon entfernt, vorbildhaft in dieser Hinsicht zu sein. Beispielsweise wird die neue Verfassung kritisiert, weil sie die Abtreibung erschweren möchte. In Irland und Malta jedoch ist die Abtreibung schon jetzt strafbar, es sei denn es besteht eine Gefährdung der Mutter. In den Medien wird das Gesetz scharf kritisiert, aber wie der französische Europa-Korrespondent Jean Quatremer schrieb, sollte Frankreich keine Lektionen erteilen: Nicolas Sarkozy ernennt die Mitglieder des Conseil supérieur de l’audiovisuel [französische Rundfunkanstalt] und die allermeisten Medien werden von regierungsnahen Personen kontrolliert. Bela ist 30 und Doktorand der Internationalen Beziehungen in Budapest: „Es ist wahr, dass die ungarischen Medien mehr und mehr unter der Kontrolle der Regierung stehen. Ich würde allerdings nicht sagen, dass es keine Pressefreiheit mehr gibt. Man findet ein breites Panel an Zeitungen und Blogs, die die Meinung der Opposition unterstützen. Selbst wenn die Geschichten von Klubradio und MTVA aufzeigen, wie die Regierung versucht sich die Medien anzueignen. Dank dem Internet wird sie es niemals schaffen, alles zu kontrollieren.“
Wirtschaftslage macht gewisse Restriktionen notwendig
„Ich glaube, Orbáns Idol ist Nicolas Sarkozy“
„Ich glaube, Orbáns Idol ist Nicolas Sarkozy.“ Bela fühlt sich mehr von der wirtschaftlichen Situation betroffen, als von der Politik. Wenn man ihn über die Entlassung der Mitglieder von Klubadio befragt, die in der Presse erwähnt wurde, antwortet er: „Es stimmt, viele Ungarn wollen das Land verlassen, aber vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, aufgrund von Zukunftsängsten und wegen einem allgemein vorherrschenden Pessimismus.“ Grob gesagt sind die Probleme, auf die sich die westlichen Medien fokussieren, ganz einfach nicht die adäquaten...
Die ausländischen Medien schlagen Alarm
„Das Problem liegt nicht in der Verfassung, sondern in der Art und Weise, wie die Regierung zu schnell und ohne Abstimmung mit den betroffenen Personen Organgesetze verabschiedet hat“, bekräftigt András, 23, Student des Finanzwesens in Budapest. Diese Ansicht vertrat auch die Venedig-Kommission im Juni 2011, die damit beauftragt war, die neue Verfassung zu beurteilen. Seiner Meinung nach „sieht die neue ungarische Verfassung eine überwältigend große Zahl an Themen vor, die von Organgesetzen abgedeckt sind“. Insbesondere diese Texte nehmen gewisse internationale Medien in erster Linie ins Visier, besonders eine Wahlreform zugunsten der Mehrheitspartei und ein Mediengesetz, das einem Expertenbericht zufolge einzigartig in Europa ist. Der Bericht zeigt auch auf, dass dieses Mediengesetz Ungereimtheiten enthält.
Inkohärenzen, die dem Traditionalismus Orbáns zur Last gelegt werden: „Viktor Orbán wird für einen der fähigsten Politiker der letzten 20 Jahre gehalten. Trotz seiner Fähigkeit versteht er jedoch nicht, wie moderne Demokratien funktionieren und nutzt sehr traditionelle Mittel in einer Welt, die ständig in Bewegung ist.“ Auch András fügt lachend hinzu: „Ich glaube, sein Vorbild ist Nicolas Sarkozy.“ Die Probleme, die die Medien anprangern, betreffen möglicherweise nicht nur Ungarn…
Illustrationen: Homepage (cc)ana/flickr; Im Text: Sarkozy (cc)Gueorgui/flickr; Videos: Ferenc Gyurcsany (cc)batman4e/YouTube
Translated from La Hongrie, l'« Orbanistan » et l'exagération des médias étrangers