Ungarisches Mediengesetz: Frankreich sollte nicht mit Steinen werfen...
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BabelitoGegen Augustin Scalbert, Journalist für die Informationsseite Rue89, wurde am 11. Juni 2010 von der französischen Justiz ein Verfahren eingeleitet, weil er ein Video von Nicolas Sarkozy veröffentlicht hatte, das diesen vor vermeintlich ausgeschalteten Kameras zeigte. Er muss zur Zeit mit 5 Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe in Höhe von 375.000 Euro rechnen.
Als ich ihn in Paris interviewte, hatte er gerade eine Mail des Journalisten Guillaume Dasquié erhalten, dessen Fall ganz genau in das Schema des ungarischen Mediengesetzes passt … und das mitten in Frankreich! Eine kleine Vergleichsübung zwischen Frankreich und Ungarn.
cafebabel.com: Wie habt ihr bei Rue89 das ungarische Mediengesetz verfolgt?
Augustin Scalbert: Wir haben Kolumnen veröffentlicht. Das ist ein bisschen besorgniserregend, aber wenn sich das in Deutschland oder Großbritannien abgespielt hätte, einem eher „wichtigen“ Land auf dem europäischen Schachbrett, dann wäre die Aufruhr in Frankreich um einiges größer gewesen. Auch wenn Ungarn gerade die Ratspräsidentschaft in der EU inne hat, bleibt es ein eher abgelegenes Land. Und wenn es nicht die Präsidentschaft übernommen hätte, dann hätte man darüber wahrscheinlich fast gar nicht gesprochen. Mittlerweile haben viele französische Medien die fehlende Reaktion der EU kritisiert, sowie die der großen Länder, die als Motor der EU angesehen werden. Es ist tatsächlich ziemlich skandalös, diesen Mangel an Reaktion zu beobachten. Frankreich hat letztendlich reagiert, aber ein bisschen zu spät…
cafebabel.com: Haltet ihr das Ultimatum, das die Europäische Kommission gestellt hat, für befriedigend?
Augustin Scalbert: Wenn dabei etwas herauskommt, ja, aber das bezweifle ich. Wenn dieses Gesetz wirklich angewendet wird, dann können die ungarischen Bürger und Journalisten es anzeigen, vor Gericht ziehen, ihr Land vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilen lassen. Die jetzige Antwort der EU ist letzten Endes ziemlich 'nutzlos'.
cafebabel.com: Gibt es denn tatsächlich genügend Mechanismen, um die Pressefreiheit auf europäischer Ebene zu schützen? Du hast den EGMR genannt, ist das alles?
Augustin Scalbert: Ja, der EGMR ist sehr wirksam. Staaten werden regelmäßig vom EGMR verurteilt, dessen Entscheidungen bindend sind. Die betroffenen Staaten zahlen Geldstrafen, aber die Prozedur ist kostspielig und nimmt viel Zeit in Anspruch. Vielen Medien und Journalisten stehen solche Mittel nicht zur Verfügung, weswegen die Systeme, mit denen Druck auf Journalisten ausgeübt wird, oft wirksam sind. Wir bei Rue89 können uns das erlauben, weil wir einen ausgezeichneten Anwalt haben. In den vier Jahren unseres Bestehens haben wir viel Anerkennung innerhalb der französischen Medienlandschaft erlangt. Aber so geht es nicht allen.
cafebabel.com: Man regt sich sehr über Ungarn auf, aber in Frankreich gibt einen genauso Starken Druck auf die Medien?
Augustin Scalbert: Ja, absolut. Frankreich hat 20 Plätze im Ranking zur Pressefreiheit verloren, das 2010 von Reporter ohne Grenzen erstellt worden ist (A.d.R.: Ungarn war dort übrigens besser platziert als Frankreich. Vor seinem Mediengesetz lag Ungarn auf Platz 23, während Frankreich sich an 44. Stelle befand). Redaktionsdurchsuchungen, Gerichtsvorladungen und Ermittlungsverfahren gegen Journalisten vervielfachen sich.
Was das ungarische Gesetz angeht, das ist ganz offensichtlich auf mehreren Ebenen skandalös. Dass die Regierung diese Verordnung erlässt, damit die Medien objektiver Bericht erstatten, ist absolut widersprüchlich. Es ist gerade die Regierung, die die Mitglieder dieser Kontrollinstanz für die Medien ernennt: Diese Leute sind zwangsläufig deren Anhänger, denn der Premierminister ernennt sie! Meiner Meinung nach wird das vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nicht standhalten. Was noch weniger standhalten wird, ist die Tatsache, dass dieses Gesetz den journalistischen Quellenschutz als Sicherheitsmaßnahme verletzt. Und das ist eindeutig etwas, das der EGMR verurteilt, da die Europäische Menschenrechtskonvention den journalistischen Quellenschutz als einen der Pfeiler der Demokratie ansieht. Das Gesetz erinnert mich an das, was dem französischen freiberuflichen Journalisten Guillaume Dasquié passiert ist, der sich auf Terrorismus und Sicherheitsgeheimnisse spezialisiert hat.
Link zum Weiterlesen: Betrug, Verbrechen und Medien: Enthüllen ist Gold
Anfang 2007 enthüllte er im Rahmen einer in Le Monde veröffentlichten Untersuchung, dass die französischen Behörden - in diesem Fall die DGSE (A.d.R.: der französische Auslandsnachrichtendienst) - ihre amerikanischen Kollegen kurz vor dem 11. September 2001 vor dem Bevorstehen eines terroristischen Anschlags gewarnt hatten, der wahrscheinlich in Form von Flugzeugentführungen erfolgen würde. Diese Information war offensichtlich sehr unangenehm für die Vereinigten Staaten, ihre Geheimdienste und die französisch-amerikanischen Beziehungen. Im Dezember 2007 ist Guillaume Dasquié gerade zu Hause, als es an seiner Tür klingelt: vor ihm steht die DST - heute DCRI (Direction Centrale du Renseignement Intérieur, A.d.R.: der französische Inlandsgeheimdienst). Vor den Augen der kleinen Kinder des Journalisten machen sie sich an eine Hausdurchsuchung und nehmen ihn dann auf Grundlage des Anti-Terror-Gesetzes in Gewahrsam (das Gesetz erlaubt, den Gewahrsam quasi auf unbestimmte Zeit zu verlängern). Dort wird er von einem der Chefs des Geheimdienstes und einem Staatsanwalt befragt. Die Befragung wird zu einer wahrhaftigen Erpressung, die man mit folgenden Worten zusammenfassen könnte: „Gib uns deine Quellen oder du verbringst Weihnachten nicht mit deinen Kindern.“ Guillaume nannte den Namen einer Quelle, von der er wusste, dass sie von besagten Behörden schon „erwischt“ worden war, und wurde freigelassen. Das ist ein Skandal! Vor dem Vorwand des Anti-Terrorismus tritt die französische Regierung den journalistischen Quellenschutz völlig mit Füßen. Das Ermittlungsverfahren, das gegen mich selbst eröffnet worden ist, weil ich im Juni 2008 ein Video von Nicolas Sarkozy auf Rue89 veröffentlicht habe, veranschaulicht eine andere Form des Drucks, dem Journalisten in Frankreich ausgesetzt sind.
cafebabel.com: Welchen Rat würdest du den ungarischen Journalisten angesichts dieses Gesetzes geben?
Augustin Scalbert: Ich würde ihnen sagen, dass sie vor allem ihre Arbeit so gut wie möglich fortführen müssen. So werden sie unvermeidlich einen dicken Hund ausgraben, der der Regierung unangenehm ist, diese wird das neue Gesetz anwenden, und in dem Fall, denke ich, wird sich das Blatt wenden: In dem Versuch zu zensieren, zu kontrollieren, wird die Regierung die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Information lenken, die sie eigentlich zu unterdrücken sucht. Das nennt man den Streisand-Effekt. Wenn die Regierung auf ein für die Demokratie so freiheitstötendes Gesetz zurückgreift, dann bestimmt, weil ihre Mitglieder etwas zu verbergen haben. Ich würde die Journalisten dazu ermuntern, da einmal zu graben, damit die Regierung dann einen Gegenschlag kassiert.
Foto: (cc)angietorres/flickr
Translated from Loi médiatique hongroise : la France n’a pas de leçons à donner