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Unbehagen in der Geschichte

Published on

Strassburg

Von Guillaume Delmotte (version originale en français) Übersetzung: Saskia Diebert

Die Geschichte macht Frankreich noch immer zu schaffen. Oder, besser gesagt, seine Beziehung zur Geschichte.

Und das in einer Zeit, in der sich das Land, wie alle Nationen der Welt – und vor allem die ehemaligen Kolonialmächte – mit der „Globalisierung“ konfrontiert sieht, dieser wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung, die zunehmend Grenzen durchbricht und den Gedanken an eine mögliche Vorherrschaft einer einzigen Nation zunichte macht. In einer Zeit, in der es sich mit 25 anderen Staaten den Aufbau einer „immer engeren“ Europäischen Union vorgenommen hat.

Eher als von „Globalisierung“ müsse man jedoch von „Verwestlichung“ der Welt sprechen, wie der Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cohen in seinem neuesten Werk betont (La prospérité du vice. Une introduction (inquiète) à l’économie, Le Seuil, 2009). Paradoxerweise werden die westlichen Gesellschaften gerade jetzt, wo sich die Welt mehr als je zuvor dem westlichen Entwicklungsmodell angepasst hat, selbst unsicher in der Frage nach ihrer Identität und offenbaren eigene Existenzängste. Doch vielleicht ist dies nur scheinbar ein Paradox. Denn es handelt sich hier um gut bekannte geschichtliche Entwicklungen, die sich nach dem Vorbild der Plattentektonik vollziehen, wie etliche Beispiele bestätigen: so erhitzte die Dreyfus-Affäre in Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts die Gemüter, zu einem Zeitpunkt, als die Gleichstellung der Juden in der französischen Gesellschaft vollzogen war. Und in den achtziger Jahren begann die rechtsextreme „Front National“ ihren politischen Aufstieg in Frankreich, während die relative Zahl an Ausländern im Land abnahm. In diesem Sinne kann man die These aufstellen, dass auch der radikale Islamismus nur eine Reaktion auf die demografische und kulturelle Modernisierung der islamischen Welt sei. (siehe hierzu: Emmanuel Todd/Youssef Courbage: Le rendez-vous des civilisations, Le Seuil/La République des idées, 2008).

In unserem Zeitalter der steigenden gegenseitigen Abhängigkeit und der zunehmenden Verwestlichung der Welt scheinen sich Kollektivmentalitäten einerseits aufzulösen, andererseits deutlicher abzuzeichnen. Während Grenzen immer weiter verschwimmen, entstehen gleichzeitig Spannungen in der Identitätsbildung, die von der Angst vor dem Anderen gespeist werden – einem imaginierten Anderen. So hat die Schweiz in einer Volksabstimmung die Errichtung von weiteren Minaretten auf ihrem Boden abgelehnt, obwohl es sich bei diesen allenfalls um eine Randerscheinung handelte. Der französische Präsident führte die Diskussion über die Burka in Medien und Politik ein, ganz nach Art der PR-Fachmänner, die eine neue Marke auf den Markt bringen. Mit seinem Minister für nationale Identität (Ministre de l’Identité Nationale) wollte er zur Debatte anregen – dabei gelang es ihm nur schlecht, das Durcheinander geradezu reaktionärer Ideen zu verbergen, das diese Art von Debatte – oder von rhetorischen Ergüssen – hervorbringen kann. Damit führt Nicolas Sarkozy, der Mann des „Kärchers“ und der Rede von Dakar, im Grunde nur fort, was Jean-Marie Le Pen zu Beginn der achtziger Jahre begonnen hatte: die Unterwanderung der französischen Gesellschaft. Mit seinem Vorgehen, so will er uns weismachen, entziehe er der rechtsextremen Ecke das „Monopol“ über die Behandlung dieser Frage – dabei legitimiert er damit doch nur den Diskurs, den diese schon seit dreißig Jahren zum Thema Einwanderung führt.

Man kennt den besonderen Bezug Nicolas Sarkozys zur französischen Geschichte (siehe vor allem: Comment Nicolas Sarkozy écrit l’histoire de France, Gemeinschaftswerk, 2008). Sein manipulatorischer Umgang mit Symbolen, den er seit dem Wahlkampf im Jahr 2007 praktiziert, konnte jede Reform des Geschichtsunterrichts nur verdächtig erscheinen lassen. Dessen Wegfall im letzten Unterrichtsjahr für all jene, die sich für eine eher naturwissenschaftlich geprägte Schulbildung entschieden haben, rief bei zahlreichen Universitätsangehörigen, Intellektuellen und Politikern von links wie von rechts Kritik hervor. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Geschichtsunterricht eng mit dem gesellschaftlichen und politischen Aufbau der Französischen Republik verbunden – er trägt zur Bildung einer Gesellschaft bei und ist maßgeblich für die Erhaltung des politischen Systems. An ihm zu rütteln bedeutet, die Basis eines gemeinsamen Lebensraumes angreifen. Daher darf der Geschichtsunterricht in der Ausbildung der Elite und, weitergehend, aller künftigen Mitbürger kein reines Wahlfach sein – selbst wenn manche, wie der Initiator der Reform und Direktor des Instituts für Politikwissenschaften in Paris, Richard Descoings, damit argumentieren, dass das neue Stundenpensum des Geschichtsunterrichts mit einer Aufwertung der literarischen Studienrichtung einhergehe, was wohl auch dazu führen soll, ein neues Gleichgewicht in die Studentenschaft am renommierten Institut d’études politiques in Paris zu bringen.

Gut in Erinnerung geblieben ist das Echo, das der Artikel Alain Decauxs hervorrief, der sich im Jahr 1979 darüber empörte, dass man „den Kindern keine Geschichte mehr beibringe“. In einer Zeit, in der sich Geschichte noch mehr im internationalen Raum als nur auf nationaler Ebene abspielt, bewegen genau gleich geartete Diskussionen die Öffentlichkeit mit immer größerer Heftigkeit. Aber vielleicht erklärt auch das Ende eines politikgeschichtlichen Zyklus, der 1945 begonnen hatte – als mit der Rede Charles de Gaulles, dem befreiten Frankreich und der Widerstandsbewegung (Résistance) ein neues, nationales und republikanisches Kapitel eröffnet wurde – die aktuellen Spannungen.

Trösten kann man sich mit dem Gedanken, dass „Geschichte immer weiter geht“, wie Georges Duby in seinem Werk Eine andere Geschichte (Originaltitel: L’histoire continue) postuliert – in Erwartung eines neuen „Kapitels“ in der Geschichte, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Republik vereinigt werden können.

(Foto: Flickr/Nora maux, par rémi avec un i)