Ukraine: Auf gute Nachbarschaft?
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Ann-Marie OrfDie Ukraine nimmt die Unterstützung der EU gerne an, möchte jedoch nicht länger lediglich als ein „Nachbar“ gesehen werden. Nach den Ereignissen in Südossetien sollte die EU mit einer klaren Beitrittsperspektive für das Land aufwarten.
Wie auch Litauen sieht sich die Ukraine als Teil des geographischen Herzens Europas. Die Ukraine müsse sich nicht weiter auf Europa zubewegen, sondern habe sich nie von der europäischen Kultur, Mentalität und dem europäischen Lebensstil entfernt. Doch sind die Ukrainer, die sich als Europäer der ersten Stunde bezeichnen, wirklich bereit für den EU-Beitritt?
Menschen, nicht Tiere
Wenn es um die optimale Geschwindigkeit geht, mit der Reformen eingeführt werden sollen, zeigt sich die Uneinigkeit der regierenden Klasse und der ukrainischen Gesellschaft. Nataliya Prokopovich, Mitglied der Partei 'Unsere Ukraine', glaubt, dass jede politische Kraft ihre eigenen Vorstellungen und Pläne mit einem Beitritt des Landes zur EU verbindet. Nachdem der Präsident im Juni 2007 ein Dekret erlassen hatte, führte das Parlament die unterbrochenen Verhandlungen fort und verabschiedete nach einer Woche die mit der Aufnahme in die WTO und einem Beitritt zur EU verbundene Gesetzgebung. Notwendige Entscheidungen standen an, und so mussten auch politische Gegner im Parlament zumindest kurzfristig das Kriegsbeil begraben.
Was halten die Menschen in Kiew von der EU und was versprechen sie sich von einem Beitritt? Die EU wird in erster Linie als eine Ordnung schaffende Instanz wahrgenommen, so die Antwort eines Apothekers mittleren Alters auf diese Frage: „Es ist wichtig, bei der Arbeit, beim Geldverdienen menschlich zu bleiben. Wir sind Menschen, keine Tiere. Ordnung ist wichtig.“ Seine Vorstellung von Ordnung nennt er „deutsch“. Zwei junge Befragte, 21 und 22 Jahre alt, räumen ein, dass sie sich nicht für Politik interessieren, im Falle eines Referendums jedoch für den Beitritt stimmen würden. Für sie bedeutet die EU mehr Möglichkeiten und Chancen. Die beiden jungen Männer können sich sehr gut vorstellen, in anderen Mitgliedsstaaten zu arbeiten. Ob sie zurückkommen würden, ist eine andere Sache.
Champagner, Butter und Schokolade
Im Jahre 2002 wurde die ukrainische Gesetzgebung an EU-Recht angepasst, die Arbeit des interparlamentären Rats, der sich der Koordinierung widmet, begann jedoch noch früher. Des Weiteren besteht innerhalb des Parlaments ein Komitee, das sich mit Fragen zur europäischen Integration befasst. Das Land versucht, sich an die Richtlinien der EU anzugleichen, ob es um die Herstellung von Automobilen oder um Bildung geht. Obwohl der Ukraine keinerlei Hoffnungen auf eine EU-Mitgliedschaft gemacht werden, finden EU-Standards Anwendung. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das auch in anderen Ländern zu beobachten ist. Laut Financial Times ist die Gesetzgebung der EU strikt, Unternehmen fühlen sich sicher. Wenn sie fähig sind, ihre Geschäftspartner in der EU zufrieden zu stellen, können sie es mit jedem anderen Handelspartner aufnehmen. Länder, die an die EU angrenzen, wie zum Beispiel die Schweiz, Norwegen, die Balkanländer sowie Regionen in Nordafrika und Osteuropa haben keine Wahl. Wenn sie ihre Gesetzgebung nicht an EU-Recht anpassen, hat das Wirtschaftseinbußen zur Folge.
Was das Flugwesen, die Industrie und die Landwirtschaft in der Ukraine angeht, hat sich zweifelsohne einiges getan. Doch wenn man den großen Bessarabischen Markt im Herzen Kiews entlang schlendert, sieht man immer noch rohe Fleischbrocken auf den Tischen liegen. Man kann Zigaretten von einem Straßenhändler kaufen, manchmal auch einzeln, unverpackt. Manch ein Taxifahrer hat noch nie ein Taximeter gesehen, viele Taxis verfügen weder über Blinker noch Erkennungszeichen.
Gehälter und andere größere Summen werden in der Ukraine noch immer in Dollar angegeben.
Überall im Land geht die Anpassung an EU-Standards voran, doch die Ukrainer müssen - wie auch die Litauer vor gar nicht allzu langer Zeit - noch lernen, was echten Champagner, echte Butter und Schokolade ausmacht. Gehälter und andere größere Summen werden in der Ukraine noch immer in Dollar angegeben, nicht in Euro oder Griwna, der nationalen Währung. Außerdem müssen in Zusammenhang mit einem möglichen EU-Beitritt der Ukraine eine Reihe gewichtiger, klar benennbarer Probleme angepackt werden, wie die Korruption im Land und die mangelnde Transparenz. Ein weiteres heikles Thema sind die traditionell engen Beziehungen zu Russland: Gemäß den Bestimmungen der EU darf kein Land in einer Zollunion mit zwei Wirtschaftsblöcken stehen, die selbst keine Zollunion bilden.
Mehr Zeit ist nötig!
Viele Ukrainer sehen in der Europäischen Nachbarschaftspolitik ein Programm, das es ihnen verwehrt, die gleichen Rechte wie die Europäer zu genießen, und betrachten die Zweifel der EU hinsichtlich engerer Bande zu ihrem Land als einen Angriff auf ihre persönliche Würde. Der Sonderbeauftragte des ukrainischen Präsidenten und Vizeaußenminister der Ukraine, Konstantin Jelissejew, erinnert sich an einen Vorfall vor der Botschaft eines EU-Mitgliedsstaates, der dies in seinen Augen illustriert: Um die versammelten Diplomaten davon zu überzeugen, dass die jungen ukrainischen Anwesenden keine Terroristen oder potentielle illegale Immigranten waren, musste das Musikensemble stundenlang musizieren.
Es kommt nicht selten vor, dass ukrainische Geschäftsleute kein Visum bekommen.
Auf der anderen Seite kann jeder EU-Bürger (mit Ausnahme der Bürger der im Jahre 2007 beigetretenen Staaten) ohne Visum in die Ukraine einreisen. Auch für Ukrainer sollte die Einreise in EU-Staaten, die momentan kompliziert und oftmals demütigend ist, vereinfacht werden. Es kommt nicht selten vor, dass ukrainische Geschäftsleute kein Visum bekommen, um in einen EU-Staat zu reisen und dort einen Vertrag mit einem europäischen Geschäftspartner abzuschließen. Für Studenten, Wissenschaftler und Geschäftleute wurde bereits ein Abkommen getroffen, das eine reibungslose Einreise gewähren soll. Dessen Umsetzung bleibt jedoch jedem Mitgliedsstaat selbst überlassen.
Funktionäre und Politiker räumen ein, dass ihr Land noch einige Zeit braucht, um ein wirkliches Dazugehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Diplomaten, Politiker und Journalisten bemühen sich nun zusehends, mit der althergebrachten Gewohnheit zu brechen, den Ländernamen Ukraine mit dem bestimmten Artikel zu gebrauchen. Die Verwendung des bestimmten Artikels soll die wörtliche Bedeutung des Namens im Altslawischen - „der Rand“ - heraufbeschwören. Patriotische Linguisten sähen es am liebsten, wenn die traditionelle grammatikalische Form „an der Ukraine“ zu Gunsten des im Russischen verwendeten Ausdrucks „in der Ukraine“ verschwinden würde. Die Ukraine hat genug von ihrem Status als Randstaat und verwehrt sich dagegen, zum neuen Randgebiet Europas degradiert zu werden.
Die Reise der Autorin nach Kiew wurde vom European Journalism Centre und der ukrainischen Association of Journalist Initiatives organisiert. Die Erstveröffentlichung der litauischen Originalversion dieses Artikels erschien im Jahre 2007 in der Wochenzeitung „Atgimimas“.
Translated from Ukraine 'don't want to be Europe's neighbours'