Türkische Nuklearträume
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Das türkische Energieministerium will neue Atomreaktoren bauen und so einigen westeuropäischen Staaten den EU-Beitritt der Türkei schmackhaft machen. Doch die Pläne beruhen auf unrealistischen Schätzungen.
Die Debatte um die friedliche Nutzung von Atomenergie ist in der Türkei nicht neu, sie kommt in unregelmäßigen Abständen immer wieder auf die Tagesordnung. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 verschwanden sie jedoch lange Zeit in den Regalen des Energieministeriums und wurden erst vor einigen Jahren wieder hervorgeholt. Anfang 2004 hat Energieminister Hilmi Güler von der Regierungspartei AKP die Weichen in Richtung Atomkraft gestellt. Noch im Januar 2004 behauptete Güler, die Türkei werde „auf Kohle, Wasser und erneuerbare Energiequellen setzen.“ Vier Monate später klang das schon ganz anders: „Wir sind bei den Nuklearreaktoren bis zur Ausschreibung gelangt. Bis 2020 werden wir 2 oder 3 Nuklearreaktoren bauen“.
Ende 2005 schließlich hat die Regierung ihre Energiepläne für die kommenden Jahre offen gelegt und dabei verkündet, schon bis 2012 mindestens drei Kernkraftwerke ans Netz nehmen zu wollen. Dieses Datum schien dann selbst dem Energieminister zu ambitioniert, weshalb er am 3. Januar 2006 als Einstiegsdatum in den Atomstrom das Jahr 2015 angab.
Als Anfang 2006 Russland der Ukraine den Gashahn zudrehte und so seinen Willen bekundete, mittels Energie Politik zu betreiben, war das Wasser auf die Mühlen des Energieministers. Auch in der Türkei wurde die Debatte um die Abhängigkeit vom Ausland angeheizt. Das Land hat in den vergangenen Jahren sein Erdgasnetz stark ausgeweitet und sowohl mit Russland als auch mit dem Iran langfristige Lieferverträge abgeschlossen. Man hat sich sehenden Auges in die Abhängigkeit zweier Staaten begeben und preist nun die Nuklearenergie als Ausweg.
Nukleares Schmiergeld für die EU
Zwar handelt es sich um nationale Energiepläne, doch ist gerade beim Thema Nuklearenergie die Außenpolitik nicht zu unterschätzen. Im Vorfeld der Entscheidung der EU zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei bereiste der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan zahlreiche europäische Hauptstädte und warb dort für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen. Bei solchen Gelegenheiten helfen wirtschaftliche „Anreize“. So stellte er in Frankreich im Sommer 2004 die Möglichkeit einer etwa 12,5 Milliarden Euro hohen Ausschreibung zum Bau von Kernkraftwerken in Aussicht. Die Tageszeitung Milliyet kommentierte das am 21. Juli 2004 mit der Überschrift „Nukleares Schmiergeld“.
Vertreter der heimischen Industrie zeigen sich bis jetzt zögerlich, z.B. äußerten sich Mitglieder des Industrieverbandes TÜSIAD skeptisch nach Treffen mit dem Energieminister, da ihnen das Projekt zu unsicher und kostspielig erscheint. Dies hat sich auch nicht durch die Ankündigen des Energieministeriums geändert, dass der Staat bei Problemen einspringen und besondere Kredite erteilen werde.
Der Energieverbrauch wird überschätzt
Ein wichtiges weiteres Argument für den Bau von Atomreaktoren ist die Annahme, dass der Energieverbrauch in der Türkei in den kommenden Jahren stark ansteigen wird und ohne den Bau von Atomreaktoren die Energieversorgung gefährdet wäre. Diese Annahmen stützen sich auf Schätzungen des Energieministeriums, die zum ersten Mal im Jahr 2005 angestellt wurden. Das Ministerium ging auf Grundlage des Energieverbrauchs 2004 für das folgende Jahr von einem Energieverbrauch von 197 Mrd. Kilowattstunden aus. Die verbrauchte Energie im Jahr 2005 belief sich aber lediglich auf 145 Mrd. Kilowattstunden. Somit verschätzten sich die staatlichen Stellen um satte 26%. Man kann deshalb davon ausgehen, dass der für das Jahr 2020 geschätzte Energiebedarf von 500 Mrd. Kilowattstunden weit übertrieben ist.
Die türkische Regierung geht davon aus, dass bei ständigem Wirtschaftswachstum auch der Energieverbrauch entsprechend ansteigt. Das Beispiel der westeuropäischen EU-Staaten hat aber gezeigt, dass mit steigender Industrialisierung der Energieverbrauch vor allem der Wirtschaft sinkt. Auch werden mögliche Einsparungen durch gesteigerte Energieeffizienz unterschlagen. Die an das Ministerium angebundene Behörde EIEI geht davon aus, dass bis zu 30 Prozent der zuz Zeit verbrauchten Energie eingespart werden könnten.
Anti-Nuklear-Bewegung formiert sich
Langsam formiert sich die Gegnerschaft zu den Atomplänen der Regierung. Am 1. April tagte in Ankara zum zweiten Mal die Anti-Nuklear-Platttform (NKP), der über 100 NGOs, mehrere Berufskammern und die wichtigsten Umweltplattformen (z.B. TÜRCEP) angehören. Sie beschloss konkrete Schritte, darunter Konferenzen in Izmir und Mersin in Erinnerung an den Reaktorunfall in Tschernobyl und ein großes Treffen am 29. April in der Schwarzmeerstadt Sinop, die laut Regierungsplänen ein möglicher Standort für einen Atomreaktor sein soll.
Bis heute ist es den Atomkraftgegnern in der Türkei noch stets gelungen, Atomkraftwerke zu verhindern. Wie es dieses Mal ausgeht, ist offen.