Türkei wendet Krise ab - auch mit der EU
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Die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts gegen das Verbot der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP ruft auch in der EU Erleichterung hervor.
Nach 3 Tagen und 30 Stunden Verhandlungen hat der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts Hasim Kilic am 30. Juli sichtlich erschöpft verkündet, dass die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) nicht wie von der Staatsanwaltschaft gefordert verboten wird. Damit ist ebenso die Forderung, 71 AKP-Politiker mit einem fünfjährigen Politikverbot zu belegen, abgewendet.
Das Urteil hätte dabei aber knapper nicht sein können. 6 von 11 Richtern hatten sich für ein Verbot ausgesprochen. Da für ein Parteiverbot aber eine Mehrheit von 7 Richterstimmen erforderlich ist, konnte das Verbot schließlich nicht durchgesetzt werden. Infolge der Verhandlungen haben sich allerdings 10 Richter in einer zweiten Entscheidung dafür ausgesprochen, der AKP die staatliche Parteifinanzierung im kommenden Jahr um die Hälfte zu kürzen. Lediglich Gerichtspräsident Kilic stimmte dagegen. Der Verfassungsexperte Ergun Özbudun sagte der liberalen türkischen Zeitung Taraf, dass einzig eine einstimmige Zurückweisung des Verbots im Einklang mit den Gesetzen und der Verfassung gewesen wäre. "Freiheitlich-demokratisch" sähe seiner Meinung nach anders aus.
'Ein rechtstaatliches Verfahren hatte niemand erwartet.'
Trotzdem ist diese knappe Entscheidung eine Sensation. Als Oberstaatsanwalt Yalcinkaya am 14. März 2008 die Anklage gegen die AKP wegen "Aktivitäten gegen die säkulare Ordnung" vorbrachte, gingen die meisten Kommentatoren, Politiker und Intellektuellen von einem klaren Parteiverbot aus. Ein rechtstaatliches Verfahren hatte sowieso niemand erwartet.
Stimmungswandel
Das gleiche Gericht hatte nämlich noch Anfang Juni Verfassungsänderungen, die auf ein Gesetz der AKP hin die Lockerung des Kopftuchverbotes vorsahen, mit 9 zu 2 Stimmen zurückgewiesen. Auch in Zukunft dürfen keine Kopftücher an türkischen Universitäten getragen werden. Was in den knapp 2 Monaten nach diesem Urteil zusätzliche drei Richter dazu veranlasste, gegen ein Verbot der AKP zu stimmen, lässt Raum für Spekulationen.
Ein Stimmungswandel war deutlich im Zuge der so genannten "Ergenekon-Operation" zu spüren, in deren Rahmen bis jetzt insgesamt 86 Personen, darunter führende ehemalige Generäle eines Geheimnetzwerks, wegen Putschplänen und Mordanschlägen auf Prominente verhaftet wurden. Vor der Eröffnung des Verfahrens wurde bekannt, dass auch Druck auf die Staatsanwaltschaft ausgeübt wurde.
Krise abgewendet
Im Falle eines Verbots der AKP, hätte im günstigsten Fall die EU die Beitrittsverhandlungen ausgesetzt und deren Wiederaufnahme an konkrete Maßnahmen gekoppelt. Im ungünstigsten Fall wären die Verhandlungen komplett abgebrochen worden. Dann wäre die Wiederaufnahme nur nach einer einstimmigen Entscheidung der 27 Mitgliedstaaten möglich, was man in der aktuellen Konstellation mehr oder minder ausschließen kann. Leichter hätte man es Nicolas Sarkozy und anderen Kritikern eines Türkei-Beitritts zur EU kaum machen können.
'Leichter hätte man es Nicolas Sarkozy und anderen Kritikern eines Türkei-Beitritts zur EU kaum machen können.'
So waren auch die Verlautbarungen europäischer Politiker in Bezug auf zukünftige bilaterale Beziehungen zurückhaltend positiv. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU), begrüßte den Ausgang des Verfahrens: "Ein Verbot der AKP hätte unseren Rechtsprinzipien widersprochen", sagte er Spiegel Online. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn ermutigte seinerseits die Türkei, "mit ganzer Energie ihre Reformen zur Modernisierung des Landes fortzusetzen." Emotionaler äußerte sich die Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments Ria Oomen-Ruijten: "Als eine Europäerin, die die Türkei und die Türken liebt, ist mein bescheidener Rat an die Türkei, eine neue Verfassung so schnell wie möglich zu verabschieden."
Diesem Rat werden sich besonders diejenigen in der Türkei anschließen müssen, die der AKP in den letzten Monaten vorgeworfen hatten, die demokratischen Reformen vernachlässigt zu haben. Der Entwurf der neuen, zivilen Verfassung liegt zwar schon seit Ende 2007 vor, wurde aber trotz mehrfacher Ankündigungen nie ins Parlament eingebracht. Nach der Sommerpause soll sich das nun ändern. Dabei kann die AKP zukünftig nicht immer auf einen Konsens mit den anderen im Parlament vertretenen Parteien setzen, sondern müsste eine selbstbewusste reformorientierte Politik vertreten. Dafür hat sie das Mandat mit 47 Prozent der Stimmen, nicht für Kuhhändel mit nationalistischen Parteien und dem Militär.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts hat diese Reformen rein theoretisch wieder möglich gemacht und den Ball ins Feld der AKP zurückgespielt. Ob sie damit jetzt in die Offensive geht oder defensiv Querpässe spielt, hängt vom Mut oder der Feigheit ihrer Spitzenpolitiker ab.
Ekrem Eddy Güzeldere arbeitet für die Europäische Stabilitätsinitiative (www.esiweb.org) in Istanbul.