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Tunesien: Straßenkampf und Cyberkrieg gegen die Diktatur

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Anna Karla

Politik

Seit Mitte Dezember gehen die Tunesier in Massen auf die Straße. Sie protestieren gegen Jugendarbeitslosigkeit und gegen ein korruptes Regime. Schützenhilfe bekommen sie aus dem Cyberspace, wo seit langem erbittert gegen die Zensur und für die Meinungsfreiheit gekämpft wird.

Am 17. Dezember 2010 übergoss sich Mohammed Bouazizi vor dem Gouvernementsgebäude seiner Heimatstadt Sidi Bouzid im Zentrum der Republik Tunesien mit Benzin und zündete sich selbst an. Zuvor hatte die tunesische Polizei seine einzige Einnahmequelle, einen Obst- und Gemüsestand, konfisziert, weil er keine Genehmigung besaß. Mohammed Bouazizi stirbt Anfang Januar an den Folgen seiner Verbrennungen. Er hatte einen Universitätsabschluss und wurde 26 Jahre alt. Am 22. Dezember bringt sich ein zweiter junger Mann um, Houcine Jeji. Am 24. Dezember schießt die Polizei bei einer Demonstration in die Menge, tötet einen 18-Jährigen und verletzt einen weiteren Demonstranten, der am Neujahrstag seinen Verletzungen erliegt.

Wut auf der Straße

Der 17. Dezember hat Tunesien verändert. Bisher lagen Hoffnungslosigkeit und Angst wie Mehltau über dem Land. Jetzt gehen Menschen auf die Straße, in Sidi Bouzid, aber auch in nahezu allen anderen Städten. Sie machen einer Wut Luft, die sich seit Jahren angestaut hat. Diese Wut hat viele Gesichter, aber sie hat einen klaren Adressaten. Es demonstrieren Arbeitslose und Anwälte, Schüler und Studenten. Sie demonstrieren gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die laut offiziellen Angaben bei 14 Prozent und inoffiziellen Schätzungen zufolge bei über 30 Prozent liegt, gegen die Chancenlosigkeit junger Absolventen auf dem tunesischen Arbeitsmarkt und dagegen, dass Korruption und Zensur an der Tagesordnung sind. Sie alle richten sich an eine Regierung, die vergessen zu haben scheint, wem sie zu dienen hat.

Präsidentschaft auf Lebenszeit

Seit 1987 regiert der Präsident Zine El Abidine Ben Ali ein Land, das 'offiziell' Republik heißt und sich doch unter seiner Ägide in eine Diktatur verwandelt hat. Erst im November 2009 wurde Ben Ali mit fast 90 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Ernstzunehmende Gegenkandidaten und funktionsfähige Oppositionsparteien gibt es in Tunesien nicht. Wer es zu etwas bringen will im Land, muss die Mitgliedskarte der Regierungspartei RCD besitzen oder am besten gleich dem engen Kreis von Vertrauten um die Präsidentengattin Leila Ben Ali angehören.

Wohin man blickt ziert das Konterfei des Präsidenten Läden, Restaurants und Häuserfassaden. Damit er 2004 wieder fürs Präsidentenamt kandidieren konnte, änderte Ben Ali eigens die Verfassung und hob die Mandatsbeschränkung auf. Für die nächsten Wahlen im Jahr 2014 ist bereits eine neue Verfassungsänderung in Arbeit: Die Klausel für das Höchstalter des Präsidenten muss aufgehoben werden. Nur dann dürfte Ben Ali, bis dahin 78jährig, erneut kandidieren.

Ein Land auf dem Weg zur Revolution?

Doch nun haben sich die Vorzeichen verändert. Die Kritik am Präsidenten, die es bisher nur hinter vorgehaltener Hand gab, ist auf die Straße getragen worden. In welche Richtung sich diese Proteste entwickeln werden, ob sie zunehmen werden, oder ob die Angst siegen wird, ist schwer abzuschätzen. Sicher ist aber, dass die Massenproteste das Regime in seine bisher tiefste Krise gestürzt haben. Auf einem parallelen Kriegsschauplatz musste es schon einen gewaltigen Rückzieher machen: WikiLeaks-Sympathisanten ist es in den ersten Januartagen gelungen, die Webseiten der Ministerien und der staatlichen Zeitung La Presse durch Dauerzugriffe lahmzulegen. Sie reagieren damit auf die staatliche Zensur der WikiLeaks-Seiten. Zugleich heizen sie den Cyberkrieg an, der schon seit Jahren schwelt. Es ist ein Kampf um die Meinungsfreiheit. Webseiten wie youtube, Flickr und zahlreiche oppositionelle Blogs können in Tunesien nicht geöffnet werden. Angesichts der aktuellen Ereignisse wurde auch Facebook teilweise zensiert.

Europa schläft oder wartet ab

Während der arabische Fernsehsender Al-Jazeera täglich über Tunesien berichtet, halten sich die europäischen Medien zurück. Nur in Frankreich, das traditionell enge Verbindungen zu seinem ehemaligen Protektorat pflegt, haben Le Monde und Libération mit Titeln zum Thema nachgezogen. In Deutschland hat noch keine der großen Zeitungen sich über Unruhen im Urlaubsparadies geäußert. Auch von Regierungsseiten wurde bislang noch nichts verlautbart. Dabei dürfte Ben Ali gerade hier Verbündete vermuten: Weil seine Diktatur neben den Freiheits-Bloggern auch dem politischen Islam den Krieg erklärt hat, ist er bei seinen europäischen Kollegen wohl gelitten. Jetzt wird er hoffen, dass jenseits des Mittelmeers keiner merkt, dass es bei den Protesten im Land um etwas ganz anderes geht. 

Foto: (cc)pietroizzo/flickr

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