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Tschetschenen-Führer Achmed Sakajew: "Geiseln des Kreml"

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Politik

Der in London im Exil lebende ehemalige Premierminister Tschetscheniens, Achmed Sakajew, beklagt die Untätigkeit Europas im Nordkaukasus.

Achmed Sakajew ist der einflussreichste Vertreter des tschetschenischen Widerstandes in Europa. Als Premier der tschetschenischen Exil-Regierung lebt er in London. Russland hingegen sucht ihn per Interpol-Haftbefehl und wirft ihm neben Terrorismus und Separatismus auch organisiertes Verbrechen vor. Moskau sieht in Sakajew den Koordinator des Terrors im Kaukasus. Er selbst gibt sich im Interview als machtloser Hüter über Verträge und als Verfechter des Traums von einem eigenständigen tschetschenischen Staat.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie Nachrichten aus Tschetschenien hören?

Achmed Sakajew: In den letzten zehn Jahren haben wir nur Negatives gehört. Als Person, die in alle politischen Prozesse involviert war, ärgert mich das. Aber ich verstehe die Ausweglosigkeit der Situation.

Welche Situation ist das: Krieg? Frieden? Beruhigt sich die Lage?

Achmed Sakajew: Das tschetschenische Volk ist Geisel des Kreml und seiner Handlanger. Jeden Tag ist es deren Gewalt ausgesetzt. Jeden Tag sterben Menschen. Jeden Tag gibt es Entführungen, Folter, Hinrichtungen ohne Prozess. Tschetschenien ist eine offene Wunde am Körper Europas. Die Europäer sollten und könnten eingreifen. Aber sie verschließen die Augen.

Wer hat das Sagen im Widerstand? Moskau wirft Ihnen vor, Sie würden im Kampf gegen Russland eine koordinierende Rolle spielen.

Achmed Sakajew: Zu meinem größten Bedauern ist das nicht der Fall. Ich habe keine Möglichkeit, auf die militärische Situation Einfluss zu nehmen. Mit der einseitigen Ausrufung des Kaukasischen Emirates durch den Guerillaführer Doku Umarow 2007 ist eine Spaltung passiert. Seither ist die militärische Komponente des Widerstandes abgegrenzt von der politischen. Aber abgesehen von unseren militärischen Ressourcen gilt: In diesem Konflikt gibt es keine Lösung durch Gewalt.

Tschetscheniens Autonomie geht sehr weit, die Republik verfügt über eigene Sicherheitsdienste, Steuerhoheit usw. Ist das für Sie eine Lösung?

Achmed Sakajew: Ich habe immer gesagt, dass Unabhängigkeit kein Selbstzweck ist. Für uns garantiert sie die Sicherheit des Volkes. Putin hat einmal eine ähnliche Aussage gemacht: Dass für Russland der formelle Status Tschetscheniens unwichtig sei. Für Moskau ist wichtig, dass Tschetschenien keine Aufmarschbasis für Aggressoren ist. Ich bin überzeugt, dass man auf dieser Basis eine Formel zur Koexistenz und Lösung des Konflikts finden kann.

Wie würden Sie den derzeitigen rechtlichen Status Tschetscheniens bezeichnen? Ein legaler Zustand?

Achmed Sakajew: Tschetschenien ist der einzige Ort Europas, an dem es keine Gesetze gibt. Überhaupt keine.

Russland argumentiert, dass Gesetzlosigkeit herrscht, weil Terroristen wie Doku Umarow aktiv sind. Und im selben Atemzug werden auch Sie genannt.

Achmed Sakajew: Ich war seit dem Jahr 2000 nicht mehr in Tschetschenien. Ich kann auf die Lage keinen Einfluss mehr nehmen. Die Verantwortung dafür, was sich heute in Tschetschenien abspielt, liegt bei jenen, die behaupten, die Situation zu kontrollieren. Was Umarow angeht, bin ich überzeugt, dass er gesteuert wird. Die Provokationen und Terrorakte, zu denen er sich bekannt hat [beispielsweise die Anschläge in der Moskauer U-Bahn Ende März 2010; A.d.R.], wurden abgestimmt. Sie wurden unter Kontrolle der russischen Regierung und des Geheimdienstes FSB verübt.

Was haben Sie in der Hand, um eine Lösung herbeizuführen?

Achmed Sakajew: Die Dokumente, den Friedensvertrag von 1997. Die Überzeugung, dass sich das tschetschenische Volk nicht mit der Situation abfinden wird. Im Gefüge der Welt hat sich viel verändert. Bis heute stand die territoriale Einheit des Staates über dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Aber die USA und die EU haben den Kosovo als Staat anerkannt. Und Russland - das in der Sache Tschetscheniens immer an die territoriale Einheit appellierte - hat Südossetien und Abchasien als von Georgien unabhängige Staaten anerkannt. Wir wissen, dass Russland interessiert sein wird, die Konflikte im Nordkaukasus politisch zu lösen. Denn heute herrscht nicht nur in Tschetschenien Krieg, sondern im gesamten Nordkaukasus. Stabilität in Tschetschenien ist Stabilität im Kaukasus, Stabilität im Kaukasus ist Stabilität in Russland und Stabilität in Russland ist Stabilität in der Welt.

Der Autor dieses Artikels, Jonas Huber, ist Korrespondent des Osteuropa-Netzwerks und cafebabel.com Partners n-ost.

Foto: (cc)Mikhail Evstafiev/wikimedia

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