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Totgeschwiegen: Ausländerfeindlichkeit in Russland

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GesellschaftLifestyle

Wie Strafverfolger, Politiker und Medien in Russland rassistische Übergriffe gegen Ausländer unter den Teppich kehren.

Am 13. Juni verurteilte das Landgericht im südrussischen Krasnodar den 19-jährigen Sergej Iwanizkij wegen einer Messerattacke auf den Sudanesen Machdschud Ali Babikir, Student an der Krasnodarer Staatlichen Universität. Der Täter muss wegen versuchten Mordes und Diebstahls für elf Jahre hinter Gitter. Der Fall Ali Babikir ist kein Einzelfall, denn in Russland vergeht seit anderhthalb Jahren kaum eine Woche ohne Gewalt von rechts. Wie das Moskauer Zentrum für Information und Analyse SOWA mitteilt, stieg die Zahl rassistisch motivierter Überfälle im Herbst 2006 und Frühjahr 2007 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 30 Prozent. In den ersten vier Monaten des Jahres 2007 wurden demzufolge 172 Menschen Opfer rechtsextremer Gewalttäter, 23 von ihnen kamen ums Leben.

Der Fall des Studenten Ali Babikir ist auch in einer zweiten Hinsicht typisch: Wie in vielen ähnlichen Verfahren in Russland wurde vom Landgericht Krasnodar der seit 2004 bestehende Artikel 282 des Strafgesetzbuches zur "Verhinderung extremistischer Tätigkeit" nicht angewandt. Dieser Artikel stellt unter anderem die Verbreitung rassistischen Gedankenguts sowie Übergriffe mit nationalistischem oder rassistischem Hintergrund unter Strafe. Das Institut SOWA urteilt: "Es ist offensichtlich, dass die Eindämmung von Hass-Verbrechen nicht zu den Prioritäten des Rechtsschutz-Systems gehört."

"Wenn ihr wollt, bringe ich auch euch um"

Ein näherer Blick auf den Fall verdeutlicht, wie die Strafverfolger ihre Augen vor dem wachsenden Rassismus verschließen. Ali Babikir und Iwanizkij trafen sich am Abend des 4. Juli 2006 auf der Straße, es kam zu einem Wortwechsel, dann zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung. Der Angreifer verletzte den Sudanesen mehrfach mit einem Messer und stahl sein Handy. Um drei Uhr nachts wurde Ali Babikir gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Der Sudanese lag wochenlang im Koma.

Am nächsten Tag gelang es, den Täter festzunehmen: Er hatte Anrufe auf dem gestohlenen Handy entgegengenommen und konnte geortet werden. Freunde von Ali Babikir, die ebenfalls auf das Handy anriefen, erhielten zur Auskunft: "Ich bin ein Skinhead aus Moskau. Wenn ihr wollt, bringe auch euch um." Im Verlauf der Untersuchungen wurden einige Landsleute Ali Babikirs von der Polizei befragt. Während ihres Gesprächs zeigten ihnen Beamte den Studentenausweis des Täters Iwanizkijs – mit den blitzförmig geschriebenen Buchstaben "SS" auf der Rückseite.

Anklage gegen Iwanizkij erhob die Staatsanwaltschaft Krasnodar wegen versuchten Mordes und Diebstahls – nicht jedoch wegen eines rassistisch motivierten Vergehens. Ein solches Vorgehen ist, dem Zentrum SOWA zu Folge, Teil einer systematischen Praxis: "Es besteht keine Verpflichtung zur Registrierung des Verdachts auf ein Hass-Motiv, was in der Mehrheit der Fälle ermöglicht, einer Verfolgung eines Verbrechens als ein Hass-Verbrechen zu vermeiden."

Auch wenn von Justiz, Politikern und Verwaltung unter den Teppich gekehrt: rassistisch motivierten Verbrechen können in Russland alle zum Opfer fallen, die "nicht-slawisch" aussehen. Um diese These genauer zu überprüfen, führte die Krasnodarer Nichtregierungsorganisation ETnIKA in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Youth Human Rights Movement eine Untersuchung über die Bevölkerungsgruppe durch, der auch der überfallene Machdschud Ali Babikir angehört: ausländische Studenten in Russland und insbesondere in Krasnodar.

Konflikt am Runden Tisch

Die Ergebnisse - Studenten fürchten sich außerhalb des Campus’, viele haben Konflikte am eigenen Leib erfahren – präsentierte EtNIKA im Januar 2007 an einem Runden Tisch der Krasnodarer Öffentlichkeit. Anwesend war unter anderem der stellvertretende Leiter der Abteilung für Auslandsangelegenheiten der Universitäten der Stadt, Alexandr Waschenko. Nach den Worten der Präsidentin von ETnIKA, Anastasja Denisowa, verstand Waschenko die Veranstaltung als Angriff auf seine Arbeit. Über Handy, so Denisowa, bestellte er einen ausländischen Studierenden, der vor laufenden Kameras aussagte, wie gut es ihm in Krasnodar gehe und dass er sich keineswegs diskriminiert fühle. Für die Fernsehanstalten Beweis genug, dass es im Fall Ali Babikir um Hooliganismus und Diebstahl, nicht aber um Rechtsextremismus ging.

Kurz darauf erhielt Denisowa Post von den Behörden über bevorstehende Kontrollen nach dem russischen NGO-Gesetz. Seitdem folgt eine Aufforderung zur Übergabe von Dokumenten der anderen, Vertreter der Organisation wurden wiederholt zu Gesprächen auf die Behörden gebeten. "Unsere Arbeit kam in den letzten Monaten fast zum Erliegen", berichtete ETnIKA-Mitglied Ljubow Penjugalowa. Statt sich als "Jugendgruppe für Toleranz" zu betätigen, sind die ETnIKA-Mitarbeiter laut Penjugalowa bis heute damit beschäftigt Erklärungen, Quittungen und Unterlagen vorzulegen.

Unterdessen hat auch die Stadt Krasnodar eine Studie über die Situation ausländischer Studenten erstellen lassen. Alexandr Waschenko präsentiert die Ergebnisse: Fast alle fühlen sich wohl, kaum jemand hat Angst, sich in der Stadt frei zu bewegen. Und wenn es doch Konflikte gibt, dann nicht wegen der Nationalität.

Keine Spur von offener Debatte

Auf dem Universitätscampus. Vor dem Wohnheim schlendert ein Student aus dem Tschad, der seinen Namen nicht preisgeben möchte. Zu seiner Situation meint er: "Ja natürlich werden Schwarze diskriminiert. Ich habe sogar Angst auf die Straße zu gehen." Zum Fall Machdschud sagt er leise: "Darüber möchte ich lieber nicht sprechen." Es ist Ferienzeit, viele Studenten sind aus der Stadt ans nahe Schwarze Meer gefahren. Unter den russischen Studenten, die noch da sind, haben nur wenige von dem Überfall auf ihren Mitstudenten gehört. Gras könnte über die Sache wachsen, wenn, ja wenn nicht weiter "Nicht-Slawen" in Russland wegen ihres Äußeren leiden müssten. Doch von einer offenen Debatte ist Russland noch weit entfernt.