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Totalverweigerer in Deutschland: Eine Frage des Gewissens?

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GesellschaftPolitik

Der deutsche Verteidigungsminister zu Guttenberg macht Ernst: Noch in diesem Herbst soll der Bundestag die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht beschließen. Damit geht de facto eine Tradition zu Ende, die 1956 begann - und junge Männer Jahr für Jahr zur Entscheidung zwischen Uniform und Zivildienst zwang. Was aber, wenn man weder das Eine, noch das Andere machen möchte?

Totalverweigerer möchten das System als Ganzes nicht unterstützen, zumal auch Zivildienstleistende im Verteidigungsfall zu Hilfsdiensten herangezogen werden könnenDieser Fall ist nicht vorgesehen: Die allgemeine Wehrpflicht gilt (noch) für alle männlichen Deutschen, die ihr 18. Lebensjahr vollendet haben. Jens Rügenhagen existiert im juristischen Sinne nicht. Der heute 26-Jährige entschied sich 2008, den Militärdienst zu verweigern - und den Wehrersatzdienst ebenso: „Ich begreife die Wehrpflicht als den Versuch, aus möglichst jedem männlichen Menschen einen Soldaten zu machen“ so seine Auffassung. „Der Zivildienst kann ohne Wehrpflicht nicht existieren - eine allgemeine Zwangsarbeit ist in Deutschland verfassungswidrig, es sei denn, sie ist an die Wehrpflicht gekoppelt.“ Hinzu käme, dass Zivildienstleistende im Verteidigungsfall unterstützende Maßnahmen zu leisten hätten. Die Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung e.V. (asfrab) spricht von einem „militärisch geprägten Dienstverhältnis“. Dagegen wehrte Jens sich. Totale Kriegsdienstverweigerung (TKDV) nennt sich das und ist in Deutschland strafbar. Wobei, nicht richtig. Denn da es Totalverweigerer offiziell nicht gibt, können sie für ihre TKDV auch nicht bestraft werden.

Verweigerung mit „offenem Visier“

Für Fahnen- bzw. Dienstflucht hingegen schon. Fahnenflucht liegt vor, wenn eine Person als tauglich gemustert wird, danach aber keine Verweigerung einreicht und den Dienst in der Kaserne nicht antritt. Jonas Grote hat sich 2006 für diesen Weg entschieden und dafür 42 Tage im Disziplinararrest verbracht. Für ihn ist der Zivildienst ein „ziviler Kriegsdienst“, wie er auf seiner Internetseite schreibt. Auch Jens hat den Ablauf seiner Totalverweigerung im Internet ausführlich dargestellt: „Nach meinem Gerichtsverfahren, in dem mich der Richter als Drückeberger bezeichnete und mir mein Gewissen absprach, habe ich nach einem Weg gesucht, meinen Frust rauszulassen.“ Im September 2008 wurde Jens zu einer sechsmonatigen Haftstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, sowie zu 250 Stunden Sozialdienst verurteilt. Im Gegensatz zu Jonas hat er den Wehrdienst verweigert und war nicht zum Zivildienst angetreten (Dienstflucht). Jonas kam mit einer sehr viel geringeren Strafe (120 Arbeitsstunden und das Tragen der Prozesskosten) davon, außerdem fiel er noch unter das Jugendstrafrecht - letzteres lehnen einige Totalverweigerer jedoch ab, sie wollen für ihre Tat voll zur Verantwortung gezogen werden. Die asfrab stellt fest: „Totale Kriegsdienstverweigerer verweigern grundsätzlich und mit ‚offenem Visier‘ (…) - mit nicht vorhersehbaren erheblichen persönlichen Konsequenzen. Hierin unterschieden sie sich von opportunistischen Verweigerern, die (…) eine Ausmusterung anstreben.“

Nur 397 Euro für die Ausmusterung

Seit 1989 hilft er jungen Männern, um Wehr- und Zivildienst herumzukommen - mit einer Erfolgsquote von 100 Prozent, wie Zickenrott selbst sagtSolche Opportunisten sichern das Einkommen von AusmusterungsberaterPeter Zickenrott, der jungen Männern hilft, Militär- und Zivildienst zu entgehen. Er selbst wurde 1979 gemustert, bzw. aussortiert („Es war zu dem Zeitpunkt, als die Russen in Afghanistan einmarschiert sind. Ich sah den dritten Weltkrieg schon vor der Tür stehen“). Kurz darauf begann er, sich Möglichkeiten auszudenken, „wie ich anderen Leuten, die ebenfalls betroffen sind, aus diesem Dilemma heraushelfen könnte.“ Das Ergebnis der Überlegungen und Recherchen heißt Anti-Wehrdienst-Report und kostet im Gesamtpaket mit Beratungsgesprächen und einer „hundertprozentigen Erfolgsgarantie“ 397 Euro. Einen Preis, den Zickenrott für gerechtfertigt hält: „Gründe für diesen Preis gäbe es viele. So zum Beispiel, dass man sich für einen durchschnittlichen Wochenlohn diesen Sechsmonats-Irrsinn erspart, sein Studium manchmal mehr als ein Jahr früher beginnen kann.“ Zickenrott bezeichnet sich und seine Arbeit als pazifistisch. Der Begriff Soldat bedeutet für ihn ganz klar „Soll Ohne Langes Denken Automatisch Töten“. Nach eigenen Angaben hat Zickenrott seit 1989 eine fünfstellige Zahl von Menschen „erfolgreich betreut“, von seiner Tätigkeit kann er schon lange leben. Auch wenn diese sich am Rande der Legalität bewegt. Jonas kann nachvollziehen, dass Wehrunwillige sich an den Experten wenden: "Es ist ähnlich ein Beitrag zur Abschaffung der Wehrpflicht, wenn die Ungerechtigkeit des ganzen Apparats langsam in der Öffentlichkeit bekannt wird. Wenn jemand herausfindet, dass er damit Geld machen kann und das tut, okay ..."

Aussetzung der Wehrpflicht: „Kein gesellschaftlicher Fortschritt“

Jens geht es um die politische Einstellung: „Wenn ich Leute sehe, die versuchen, die Wehrpflicht mit irgendwelchen Tricks zu umgehen, weil sie keine Lust haben, dann sind das aus meiner Sicht niedere Beweggründe.“ Über die Aussetzung der Wehrpflicht müsste Jens sich eigentlich freuen. Aber: „Aussetzung der Wehrpflicht bedeutet im Gegensatz zu Abschaffung lediglich, dass mal eben vorübergehend keine Rekrutierungen vorgenommen werden. Dies kann sich jedoch jederzeit wieder ändern. Von grundlegender Ablehnung des Krieges an sich fehlt hier jede Spur.“ Ein gesellschaftlicher Fortschritt sei die Aussetzung der Wehrpflicht nicht.

Und was denkt Peter Zickenrott, der Mann, der sein Einkommen der Wehrpflicht verdankt? Er sei „stolz“ auf seinen Beitrag „die Wehrpflicht zu Grabe getragen zu haben.“ Ein neues Projekt hat er schon - er hilft Menschen, Frührentner zu werden: „Es gibt also noch viel zu tun, Ausmusterung forever.“

Fotos: Artikellogo (cc) John-Morgan/flickr; Spielzeug-Soldaten (cc) Stéfan/flickr; Peter Zickenrott (cc) Peter Zickenrott; Video: ©AusmusternZickenrott/YouTube