To Bel or not to Bel: Belgier sein, was heißt das heute?
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Quentin Martens„Belgisch sein bedeutet, das Andere zu brauchen, um sich selbst zu bestimmen!“ 4 junge Europäer träumen von der belgischen Einheit, trotz scheinbar unüberbrückbarer sprachlicher und finanzieller Gräben zwischen Wallonen und Flamen. Ihr Geheimnis? Die Rückkehr einer hoffnungsvollen Politik, die der einzige Schlüssel zum Erfolg eines Landes sei, das am 1.
Juli 2010 die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt.
Auf das klassische Argument „wir haben ja nichts gemeinsam, alles trennt uns“ antworten wir heute mit der Gegenfrage: wer kann von sich heute noch behaupten, typisch belgisch zu sein? Niemand. Jeder. Bedeutet „belgisch sein“ nicht, in aller Bescheidenheit zu akzeptieren, dass man das Andere benötigt, um sich selbst zu definieren; die Bescheidenheit zu erkennen, dass man nicht selber der belgische Prototyp sein kann? Wir leben im Zeitalter der Multikulturalität, und die Belgier waren in der Vergangenheit stets die Vorreiter einer multiplen, komplexen, vagen, zerbrechlichen, aber doch so schönen Identität. Belgisch zu sein bedeutet auch zu akzeptieren, nicht für sich alleine belgisch sein zu können. Es bedeutet zu akzeptieren, dass uns ein Teil von uns entwischt. Belgisch zu sein bedeutet, in uns selbst unseren fremden Teil zu erkennen. Jacques Brel [Chansonnier aus Belgien; A.d.R.] sagte einmal, dass ein Land viel mehr als etwas Geografisches sei. „Belgisch sein“ ist ein Geisteszustand, eine Lebenshaltung.
Es werden sich immer Gründe für eine Spaltung finden lassen. Heute sind es die sprachlichen Spannungen, morgen werden es vielleicht die sozialen Unterschiede oder religiöse Fragen sein. Das Andere ist, per Definition, immer anders. Annäherung an das Andere ist keine Frage der Sprache, sondern eine Herausforderung der gegenseitigen Selbstverwirklichung, der wir uns überall stellen können: unterwegs, in unseren Familien, unter Kollegen, in unseren Ehen. Macht dies nicht genau den Kern unseres Lebens aus?
Wir leben in einer Epoche, in der unsere Identitäten genauso aufgebaut werden müssen wie vor 50 Jahren. Aber wir sollten nicht vergessen, dass die belgische Identität noch nie eine unveränderliche Selbstverständlichkeit war. Wir mussten sie seit der Gründung Belgiens [1830/31; A.d.R.] immer wieder aufs Neue suchen, erfinden und wieder neu erfinden. Aber diese Identität der fortdauernden Suche, dieser permanente Zustand des Wiedererfindens, ist auch gestalterisch. Dies gilt sowohl für die Frankophonen als auch für die Flamen und die Deutschsprachigen, aber auch die Italiener, Spanier, Marokkaner, Kongolesen und Türken, die sich Belgien als neue Heimat ausgesucht haben.
Hätten wir Persönlichkeiten wie Toots Thielemans, Jacques Brel, Arno, James Ensor, Jan Fabre, Magritte, Hergé oder Panamenko hervorgebracht, wenn wir diese komplexe Identität nicht gehabt hätten oder wenn die belgische Identität sich wie selbstverständlich herausgebildet hätte? Belgien ist wie aus dem Nichts heraus geboren. Und trotzdem repräsentiert es ein Projekt, dem viele Generationen ihr Leben gewidmet haben.
Belgien, Spiegel Europas
Europa ist ein Idealbild des Zusammenlebens. Die Europäische Union ist ein Mittel dazu. Was heute in unserem Land geschieht, stellt uns in den Schatten und reicht über unsere Landesgrenzen hinaus. Heute braucht Europa uns, nicht als Mitgliedstaat, sondern als Modell des Zusammenlebens.
Durch unsere gemischte Gesellschaft, unsere kulturelle Vielfalt, den Zusammenprall der romanischen und der germanischen Welt und unseren Sprachenreichtum kann man Belgien als eines der Labore Europas bezeichnen. Ist unsere Geschichte nicht die europäischste aller Geschichten? Schon immer kreuzen sich bei uns die Zivilisationen. Wir sind, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht, ein Symbol, welches in unseren Böden und unseren Köpfen verankert ist. Belgien nimmt die Symbolik des Belgiers Paul-Henri Spaak auf, der das Ideal der Europäischen Einigung geschaffen hat.
Was in Belgien passiert - das Misstrauen gegenüber Anderen und Zurückziehen in sich selbst - ist die Büchse der Pandora vieler Mitgliedstaaten. Sprachliche Minderheiten existieren überall in Europa, mit Ausnahme von Portugal. Morgen könnten Schottland, Katalonien oder die slowenischen Minderheiten in Österreich in unsere Fußstapfen treten. Wie können wir dieses Projekt des Friedens und der Wiedervereinigung mit den Ländern Mittel- und Osteuropas bewundern, den Fall der Berliner Mauer - Symbol der Einheit - feiern und nicht gleichzeitig bereit sein, selbst die nötigen Anstrengungen zu unternehmen, um den Anderen zu verstehen und um mit ihm zusammenzuarbeiten? Wenn wir in Belgien nicht mehr zum Zusammenleben fähig sind, wer in Europa ist es dann noch?
Vor dem Hintergrund unserer Geschichte, unserer durch Krisen und Verzweiflung geprägten Aktualität und unserer kommenden Ratspräsidentschaft [zweites Semester 2010; A.d.R.] haben wir die Pflicht mit gutem Beispiel voran zu gehen.
Die Inspiration der führenden Klasse
Vor 50 Jahren erklärte Paul-Henri Spaak während der Unterzeichnung der Römischen Verträge: „Tâchons de léguer au futur la source d'inspiration que nous puisons dans l'immortel passé“ [Versuchen wir der Zukunft die Inspirationsquelle zu hinterlassen, die wir in der unsterblichen Vergangenheit ausschöpfen; A.d.R.]. Es ist legitim, sich zu fragen, wo diese Inspiration der führenden Klasse heute geblieben ist.
Man kann es nicht leugnen: Die Räume der Begegnung zwischen Wallonen und Flamen verschwinden langsam. Die Universitäten und die politischen Parteien sind geteilt. Nie hat es mehrsprachige Medien für ein einheitliches Belgien gegeben. Und diese Tendenzen werden immer stärker. Wir schotten uns ab, ohne uns wirklich zu kennen. Aber ist das ein Grund, um alles aufzugeben? Ist es nicht eine Selbstlüge, wenn wir unser Ideal der Einheit und all das, was wir zusammen erschaffen haben, aufgeben? Lassen wir uns dadurch nicht von dem Bedeutungsverlust einnehmen, mit dem unsere Gesellschaft Tag für Tag zu kämpfen hat? Diese Räume der Begegnung müssen neu erfunden werden. Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten: Künstler, Wissenschaftler, Lehrer, Journalisten, Politiker und die Jugend. Jeder von uns trägt einen Teil der Verantwortung. Tauschen wir unsere Verunsicherung gegen wirkliche gemeinsame Handlungen ein.
Stimmt es, dass die Politiker eine sehr hohe Verantwortung für die aktuelle Krise tragen? Die Politik ist sicher ein schwieriges Feld, sie wird oft gering geschätzt und verachtet. Diese Politik, für die wir uns irrtümlicherweise kaum noch interessieren, scheint sich immer mehr von Idealen abzuwenden. Der beste Beweis dafür ist, dass die Politik die Bevölkerung nicht mehr inspiriert und noch weniger auf ihr Vertrauen zählen kann. Die jahrelange Stagnation und der Niedergang verstärken nur die Frustrationen in der Bevölkerung und führen zur Radikalisierung. Wir sind nun wieder auf dem Weg zu Neuwahlen und laufen damit Gefahr, den letzten Rest an Vertrauen und an Hoffnung, den die Bürger noch in ihre Vertreter haben, endgültig auszulöschen. Man drängt uns immerzu neue Wahlen auf, aber mit welchen neuen Gesichtern? Mit welchen neuen Stimmen? Mit welchen neuen Ideen?
Werden die „Egos“ der Bescheidenheit Platz machen? Das Misstrauen dem Vertrauen? Die andauernden Streitigkeiten dem lange erhofften Zuhören? Alles ist noch möglich. Sang Brel nicht einmal: „on a vu souvent rejaillir le feu de l’ancien volcan qu’on croyait trop vieux…“ ["Wir haben oft das Feuer des alten Vulkans, den wir erloschen glaubten, neu aufflammen sehen"].
Legen wir unsere Verschlossenheit und Unversöhnlichkeit ab. Fordern wir gemeinsam Offenheit, Toleranz und Konsens von unseren Politikern. Fordern wir „Staatsmänner“, die diesen Namen verdienen - keine Politiker. Fangen wir wieder an zu hoffen, um einen neuen Blick auf das zu werfen, was wir sind. Belgisch zu sein bedeutet nicht, sich gegenseitig kritisch zu mustern, sondern sich mit offenen Augen anzusehen.
In weniger als zwei Monaten bietet Europa unserem Land, Belgien, die Chance, dem europäischen Projekt sein Gesicht zu verleihen, indem es ihm das Tor der Europäischen Ratspräsidentschaft öffnet. Dies ist eine große Ehre, aber auch eine nicht zu unterschätzende Verantwortung. Wir haben die Pflicht, ein gutes Vorbild abzugeben. Fragen wir uns: „Welches Gesicht wollen wir der Welt zeigen“?
Denn belgisch sein bedeutet, das Andere zu brauchen, um sich selbst zu bestimmen.
Ein Text von Quentin Martens, 26 Jahre, Brüssel; Louis-Alfons Nobels, 26 Jahre, Turnhout ; Antoine de Lame, 26 Jahre, Rosoux ; Sandrine Siegers, 28 Jahre, Eupen.
Translated from Qu'est-ce qu'être belge ?