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Tibet außer Kontrolle

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Kultur

Ausnahmezustand: Das Aufbegehren tibetischer Mönche gegen die chinesische Unterdrückung in ihrem Gebiet eskaliert. Claude Balsiger, ein 25-jähriger Tourist aus der Schweiz, beschreibt eine bewegende Woche in der tibetischen Hauptstadt Lhasa.

Lhasa, Dienstag, 11. März

Chris, ein befreundeter Journalist, und ich essen im Ganglamendo. Nach dem Essen drehen wir eine Runde auf dem Bankhor-Square im Zentrum der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Wir machen eine Kora (einen Pilgergang in der buddhistischen Tradition, A.d.R.) um das Jokhar Kloster und spüren die Spannung, die in der Luft liegt. Überall stehen Gruppen von Zivilpolizisten und paramilitärischen Einheiten. Plötzlich schlagen sie zu. Wir wissen wie gefährlich es ist der chinesischen Polizei als Tourist im Wege zu stehen. Trotzdem folgen wir den Einsatzkräften und sehen, wie zwei Zivilisten verhaftet und abgeführt werden. Große Demonstrationen unter Beteiligung der Bevölkerung - nicht nur der Mönche - finden in den darauffolgenden Nächten statt.

Tibeter sind ein unglaublich zufriedenes Volk. Überall schließe ich neue Freundschaften und werde zu Yakbuttertee oder Essen eingeladen. In vielen Alltagssituationen werden die Tibeter grausam kontrolliert und unterdrückt. Freunde sagen mir unter vorgehaltener Hand, dass Sie ein Bild des Dalai Lama bei sich tragen. Für solch ein Vergehen können sie ins Gefängnis kommen. Die Antwort der chinesischen Herrscher in Lhasa ist eine noch massivere Truppenpräsenz. Auf allen Plätzen marschieren Uniformierte in Reih und Glied.

Lhasa, Freitag, 14. März

Am Freitag treffe ich beim Frühstück zwei junge Tibeter. Wir sitzen hinter Panoramafenstern und trinken Chai. Sie sind aufgeschlossen, sprechen durch ihre Flucht nach Indien ein gutes Englisch. Bei der Rückkehr nach Tibet wurde **** von seinem Freund, der als chinesischer Spitzel in der größten tibetischen Exilgemeinschaft arbeitete, verraten und von Chinesen verhaftet.

Security und Polizei vor dem Jokhang Tempel (Foto: Nice Logo/flickr)

Kurz vor eins verlasse ich das Restaurant, um noch eine Kora zu machen. Der ganze Bakhor-Square, das Herzstück von Lhasa, ist von Polizei und Militär besetzt. In den Gassen herrscht Aufregung. Alte Frauen, Kinder und Marktverkäufer scheinen auf ihren Absätzen, ständig zur Flucht bereit zu stehen. Ich laufe gegen diesen Strom der Nervosität an. Von weitem höre ich eine Menschenmasse heulen wie Wölfe. Plötzlich werde ich von der kleinen Gasse ausgespuckt und befinde mich mitten auf der Hauptstraße von Lhasa. Eine Masse von 400 bis 500 Menschen steht auf der Straße. Dumpfe, blecherne Schläge sind das Einzige, was das Geschrei und Geheule durchbricht. Pflastersteine fliegen von einem Bürgersteig über die ganze Straße in eine kleine Seitengasse, wo sich eine Gruppe von 50 bewaffneten Polizisten hinter ihren Schildern versteckt. Die Steine haben eine ungeheure Wucht. An den dumpfen Schlägen kann man förmlich die Kraft und Zerstörung hören. Schilder brechen wie Glas, die Menge feuert die Angreifer an. Die Polizisten können ihre Stellung nicht halten und versuchen durch die Gasse zu flüchten. Eine Menge von Hundert bis Zweihundert Tibetern verfolgten sie.

Ein alter Chinese versucht mit seinem Velorikshaw die Menge zu durchbrechen. Doch allzu schnell bemerkt der aufgebrachte Mob seine Herkunft und reißt ihn vom Fahrrad, stößt ihn rückwärts über Absperrungen auf den Boden. Als wären die Fausthiebe nicht genug, nehmen drei Männer Steine zur Hand und schlagen blind vor Wut auf den alten Mann ein. Ich kann nicht weiter dastehen und trete vorwärts, um das am Boden liegende Fahrrad herum. Ein unendlicher Weg in dieser Situation.

Ich hebe meine Arme, probiere auf mich aufmerksam zu machen, meine Nationalität als Vorteil zu nutzen. Ich schreie:”NO! NO! DON‘T! STOP!” Der Mann erhebt sich, schaut verstört in die Masse. Ich werde am Arm in eine Gasse gezogen und sehe in ein braunes, rundes Gesicht. “You cannot be here!” “You should go!”. Ein Mann Mitte Dreißig probiert an meinen Verstand zu appellieren. Doch als Europäer wäge ich mich in Sicherheit. Gibt es ein friedlicheres Volk als die Tibeter? Mit dem gewaltfreien Dalai Lama als Vorbild und Oberhaupt? Und in was für blutrünstige, mordende Bestien haben sie sich in diesen Stunden verwandelt. Die Gewalt und Kaltblütigkeit, die es benötigt, um einen anderen Menschen mit bloßen Händen und Steinen zu töten, ist unvorstellbar.

Erstaunlicherweise höre ich viele Tibeter lachen. Die Erleichterung, sich nach 50 Jahren zum ersten Mal frei in der eigenen Stadt bewegen zu können, ist enorm. Tibetische Shop-Besitzer beginnen an ihren Läden und Restaurants weiße Schals aufzuhängen, um sie damit als tibetisch zu kennzeichnen und zu schützen.

Lhasa, Samstag, 15. März

Als wir am Samstagmorgen aufwachen, ist die Straße mit mindestens 15 Schützenpanzern gefüllt. Die Soldaten sind jung. Nichts bewegt sich auf der Straße, dass keine Uniform trägt.

Tagsüber hören wir Schüsse und Explosionen. Um 5 Uhr abends werden wir zu vierzehnt in einen Minivan gestopft und aus dem Stadtzentrum gefahren. Die Straße ist verwüstet, gegen 20 ausgebrannte Autos, 7 voll ausgebrannte Häuser, sowie 50 oder mehr zerstörte und verbrannte Shops. Die Soldaten haben ihre Bajonette aufgesetzt und zögern keine Sekunde auf dich zu zielen.

Wir werden in ein Luxushotel am Ostende des Zentrums von Lhasa einquartiert. Sobald wir ankommen, wird Internet und internationales Telefon abgestellt. In der Lobby hält sich Zivilpolizei auf, belauscht uns.

Lhasa, Sonntag, 16. März

Am Sonntagmorgen werden wir vom Dröhnen der Lastwagen und Panzer geweckt. Die chinesische Armee stürmt Tibet. Wir zählen 120 Lastwagen mit 35 Soldaten. Zusätzlich Panzer. Am Montag dürfen wir endlich in die Stadt. Überall stehen Militärcheckpoints. Wir spielen ‚dummer Tourist‘ und kommen mit Pass durch fast jede Kontrolle. Die Soldaten scheinen 16 oder jünger zu sein. Die Waffe wird beim kleinsten Vergehen durchgeladen. Die Zerstörung ist massiv.

Kathmandu, Dienstag, 17. März

Am Dienstag werden wir dank der Hilfe von *** im Hotel nach Nepal ausgeflogen. In Kathmandu erwarten uns 30-50 Journalisten aus aller Welt. Sie verfolgen uns ins Hotel, rufen uns auf unseren Zimmern an oder folgen uns auf der Straße. Ich entschließe mich alle Information, die ich habe, mit ihnen zu teilen.

Europa unterstützt Tibet. Von oben links: Tibet-Demo in Antwerpen, Belgien und Frankreich. Darunter: Warschau, Polen, ein "Free Tibet"-Poster an der Duomo Kathedrale in Mailand und Demonstrant in London. (Fotos: pietel/ julien '/ gilus_pl/ reinvented/flickr)

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Olympische Spiele: welche Hilfe für Tibet

Fotos: Homepage - Demonstrant in Antwerpen, Belgien (pietel/flickr), weiße Schals (citizenof1world/flickr), Militärfahrzeuge(Foto: d o d g e r/flickr)