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Theater von "drüben": Mark Ravenhills 'Over There' in Berlin und London

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Kultur

Mark Ravenhills unkonventionelles Stück über Zwillinge, die getrennt in Ost- und Westdeutschland aufwuchsen, ist im Frühling von London bis auf die Berliner Schaubühne gewandert. Unser London-Kritiker sieht in Over There einen Zeitkommentar über die aktuelle Erweiterungspolitik der Europäischen Union. Der Ton aus Berlin ist anders: Wirft Ravenhill den Deutschen Geschichtsverdrängung vor?

Zwei Perspektiven aus London und Berlin.

Over There in Berlin: Eine Mauer aus Supermarktkartons

„Digging deep and getting dirty“, so der Name des Internationalen Autorenfestivals zu Identität und Geschichte, bei dem Theaterschaffende unterschiedlicher Länder Premieren und Gastspiele auf der Bühne präsentieren. Over There ist der britische Beitrag des Dramatikers Mark Ravenhill, der spätestens seit der Thomas Ostermeier-Inszenierung von Shoppen & Ficken (1998) auch in der deutschen Theaterlandschaft ein bekannter Name ist. Um es vorweg zu nehmen: Besonders tief gegraben wird in Over There nicht, schmutzig wird es aber durchaus.

Zunächst zur Story: Franz und Karl sind eineiige Zwillinge. Noch im Kleinkindalter werden sie getrennt: In verschiedenen Systemen aufgewachsen, vertreten sie unterschiedliche Ideologien und jeder ist davon überzeugt, dass er im Besitz der einzigen Wahrheit ist. Over There ist ein Stück über zwei Brüder, ein Beziehungsdrama, das mit viel Witz und bunten Bildern unterhaltsam die Geschichte des Aufeinandertreffens zweier unterschiedlicher Charaktere und der darauf folgenden Übernahme des einen durch den anderen erzählt. „Ich will, dass wir eins sind, dass du in mir drin bist“, sagt Franz kurz bevor er sein am Boden liegendes Ebenbild tötet. Der Westen frisst den Osten auf und nichts Sichtbares bleibt von ihm übrig.

©Simon Annand/ Royal Court TheatreMark Ravenhill nutzt alle Elemente des „In-Yer-Face“-Theaters, um das Publikum im Bann zu halten: Da wird simultan onaniert, es wird viel „language“ (Vulgärspache) benutzt und - klar - Nacktheit darf auf gar keinen Fall ausgelassen werden. Der Sohn wird durch einen Spülschwamm dargestellt, die Asche des Vaters ist eine Packung Mehl der britischen Supermarktkette Tesco und die Mauer ist aus Supermarktkartons gebildet.

Ost und West werden starr und klischeehaft dargestellt.

Das Drama um das zweigeteilte Deutschland, der Mauerfall und die anschließende Wiedervereinigung sind dabei vor allem eins: eine hübsche Kulisse. Ost und West werden starr und klischeehaft dargestellt. Auf der einen Seite Karl, der ewige, fortschrittfeindliche Sozialist, der lieber am Lagerfeuer sitzt als sich Pornos anzuschauen; dort Franz, der fiese Managertyp, der hohle Phrasen drischt und immer etwas zu viel Gel im Haar hat.

Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls ist mit Over There kein Stück über die Wiedervereinigung geboten. Das wird auch an den Reaktionen des Publikums deutlich: Viel Applaus für die beiden Darsteller Luke und Harry Treadaway, die durch ihr perfektes, pointiertes Spiel das Stück immens aufwerten. Bei einer anschließenden Publikumsbefragung tut sich eine interessante Diskrepanz auf: mehrheitlich „totally funny“ als Aussage seitens des englischsprachigen Publikums, während auf der deutschen Seite ein „naja“ oder „zu überladen und inhaltslos“ dominiert.

Wenn man das Theater verlässt, steht man dann mitten drin, im goldenen Westen. Direkt auf dem Kurfürstendamm, der Prachtstraße Westberlins, mit dem KaDeWe als Sinnbild allen (überflüssigen) Konsums. Doch eigentlich befindet man sich am hinteren Ende des Boulevards und hier wird mit Bowlingbahnen, Internetcafés, Currybuden und Ramschläden klar: es ist längst nicht alles Gold, was glänzt.

Die Mauer in unseren Köpfen, ist sie noch da? Das wird bei Over There nicht deutlich. Am Ende befindet sich Franz in einem Diner in Kalifornien und stellt nur mäßig entsetzt fest, dass alles deutsche dem amerikanischen weichen musste. Wirft Mark Ravenhill den Deutschen damit Geschichtsverdrängung vor? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Möglicherweise wollte er das Ende auch einfach nur offen lassen. „Ich halte dich, bis du einschläfst,“ sagt die grelle Bedienung zu ihm am Ende und Franz begibt sich, müde vom Kampf, in ihre Arme. Ein Vertrauen, das er Karl nie ganz schenken konnte; und so ist die Tragödie, die eigentlich als Tragikomödie daherkommt, letztendlich in die unausweichliche Realität der Oberflächlichkeit abgedriftet.

Sandra Wickert, Berlin (Die vollständige Kritik auf unserem Berlin-Blog lesen!)

Over There in London: Auch in der EU gibt es noch eiserne Vorhänge

©Simon Annand/ Royal Court TheatreDie Bühne ist kastenförmig und hell erleuchtet. Ihre saubere Geometrie kontrastiert mit der düsteren Eigenart des Royal Court Theatre auf eine irritierende, fast zermürbende Weise. Das Stück beginnt unvermittelt, indem Zwillingsbrüder zügig durch die Sitzreihen auf die Bühne marschieren; einer ist als üppige amerikanische Kellnerin verkleidet, die sofort beginnt, den anderen zu verführen.

Das Stück hat sich einiges vorgenommen. Es versucht, die Risse zwischen der DDR und der BRD offenzulegen, indem es die Wiedervereinigung eines Zwillingspaares inszeniert, das auf beiden Seiten der Berliner Mauer aufgewachsen ist. Idee und Ausführung sind zweifelsohne neuartig. Nachdem aber die erste Schrecksekunde der Aufführung vergangen ist, wird das Publikum in eine Art Dämmerschlaf versetzt: Symbole und eingesetzte Motive sind offensichtlich und der ideologische Konflikt zwischen den Zwillingen ist vorhersehbar.

Aber langsam und unmerklich nehmen die psychologischen und emotionalen Dimensionen der Bruder-Beziehung das Publikum gefangen. Für ein Stück, das in vielerlei Hinsicht ungestüm und auffällig ist, liegt seine Schönheit in der verhaltenen Art, mit der Emotion und Spannung aufgebaut werden. Mit Hilfe der Zwillinge spürt Ravenhill meisterhaft der ansteckenden Euphorie nach, die den Mauerfall begleitet hat, der anfänglichen Faszination des „Anderen“, der einem sofort tief vertraut und gleichzeitig total fremd ist. Hinzu kommt die allmählich einsetzende Verbitterung, die durch Neid und Ressentiments belastet wird.

Karl, der ostdeutsche Zwilling, verliert die Orientierung, als sein altes Leben in der westdeutschen Erweiterung untergeht. Sein verzweifelter Widerstand ist schmerzlich spürbar; Franz’ Versuche, ihm zu helfen, sind gut gemeint aber von Bevormundung und Arroganz geprägt. Franz kann Karls „kindische“ Weigerung, seine ostdeutsche Identität komplett aufzugeben, nicht verstehen. Aber paradoxerweise ist Franz nicht in der Lage, seine Welt mit seinem Bruder zu teilen. Er gerät in Panik: „Ich will keine zwei von uns. Ich will nur mich. Du musst gehen.“

Das soziale Experiment, das auf Ravenhills Bühne zu sehen ist, spiegelt nicht nur die durch die deutsche Wiedervereinigung verursachte Verlagerung wider. Es provoziert auch Fragen nach der Erweiterung der Europäischen Union als Ganzes. Können unterschiedliche Vergangenheiten, geschichtliche Hintergründe und Identitäten jemals dauerhaft miteinander vereint werden? Oder gibt es unvermeidliche politische und kulturelle Sollbruchstellen, die die ehrgeizige Suche der EU nach dem Supra-Nationalismus gefährden? Diese Probleme sind in Krisenzeiten von besonderer Bedeutung. Nehmen Sie den letzten EU-Gipfel, der das Gespenst eines neuen „eisernen Vorhangs“ an die Wand malte, gezogen, um die Interessen der schwächelnden Wirtschaft westlicher Nationen zu schützen. Während sich zentrale und osteuropäische Staaten bemühen, die totale wirtschaftliche Kernschmelze zu verhindern, weist die deutsche Kanzlerin Angela Merkel Ungarns Anliegen, den osteuropäischen Staaten aus der wirtschaftlichen Klemme zu helfen, kategorisch zurück. Vor solch einem Hintergrund werden alte Ressentiments und Abgrenzungen aufgefrischt. Und sie können große emotionale Sprengkraft entfalten wie Ravenhills Theaterstück zeigt.

Wie Franz verhält sich Westeuropa oft sehr zugeknöpft.

Franz’ und Karls Beziehung demonstriert sehr eindrucksvoll, in welchem Maß die Integration und die Erweiterung in Europa eine profunde, psychologische Umsetzung erfordern - auf beiden Seiten der östlich-westlichen Trennungslinie. Wie Franz verhält sich Westeuropa oft sehr zugeknöpft, wenn es darum geht, Reichtum und Privilegien zu teilen. Das Phänomen könnte einer Art grober Machtpolitik angelastet werden, aber vielleicht würdigt diese Betrachtungsweise die Komplexität des Themas nicht in ausreichendem Maße.

Die Erfolge des Westens haben lange einen Mythos der Überlegenheit und die Überzeugung genährt, die eigene Zivilisation könne dem Rest der Welt als Modell dienen. Aber jetzt, wo kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Grenzen beginnen, in der Europäischen Union an Schärfe zu verlieren, sieht sich der Westen mit der ungemütlichen Aussicht konfrontiert, seinen traditionellen Anspruch auf Einzigartigkeit aufgeben zu müssen. Außerdem wurden ihm im Gefolge der Finanzkrise die eigenen schmerzvollen Unzulänglichkeiten von Angesicht zu Angesicht präsentiert. All dieses fügt sich zu der Art Identitätskrise, der sich Franz bei dem Bemühen gegenübersieht, seinen Lebensstil zu teilen und gleichzeitig seine Individualität zu wahren.

Während der letzten Jahre hat die EU-Führung lange und hart um eine Klärung gerungen, wann und in welchem Umfang der Osten bereit sei, sich dem Westen anzuschließen. Er hat sich aber bedeckt gehalten, wenn es um seine eigene Bereitschaft zur Integration ging. Wie wirkt sich das auf die Zukunft der EU aus? In Over There sind die ideologischen und psychologischen Unterschiede zwischen Franz und Karl, zwischen Ost und West, unüberwindlich. Aber vielleicht sollte das Stück weniger als Vorhersage politischer Schwierigkeiten und mehr als warnendes Beispiel gesehen werden. Ost und West fehlt es vielleicht nur an einer gesunden Dosis Realitätssinn, was die Beurteilung der Unterschiede untereinander angeht und dazu an der Bereitschaft, den Übergangsprozess gemeinsam anzugehen. Bis dahin wird es weder hier noch da eine nennenswerte europäische Integration geben.

Sara Mojtehedzadeh, London (Die vollständige Kritik auf unserem London-Blog lesen!)

Translated from London and Berlin reviews of Mark Ravenhill's 'Over There' play