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« The Case You » : Wenn das Casting zum Alptraum wird

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Translation by:

Sophia Fettinger

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Auf dem Millenium-Festival in Brüssel wird der Dokumentarfilm „The Case You“ von Alicia Kuhn aus dem Jahr 2020 gezeigt. Sechs junge Frauen, darunter die Regisseurin, berichten im Film von verbalem und körperlichem Missbrauch, den sie während eines Castings erleben mussten. Der Film gibt den Schauspielerinnen die Möglichkeit, sich frei zu dieser traumatischen Erfahrung zu äußern, und betont die Komplexität des Themas.

Auf der Bühne sind fünf junge Frauen in einer Reihe, die das Kameraobjektiv fixieren, zu sehen. In ihren Blicken ist ihre Wut deutlich zu erkennen. Die Schauspielerinnen haben 2015 alle am gleichen Casting teilgenommen. In Aussicht stand der nächste Film eines anerkannten Regisseurs. Während des Vorsprechens wurden manche von ihnen manipuliert, andere sexuell missbraucht. Der Regisseur, der das Ganze gefilmt hat, hat manche der dabei entstandenen Bilder für seinen Spielfilm genutzt. Der Dokumentarfilm von Alison Kuhn „The Case You“ bringt diesen Machtmissbrauch ans Licht.

Vor der Kamera berichten die Schauspielerinnen von ihrer traumatischen Erfahrung während des Castings. „Seine Hände gingen dann zu meinen Brüsten und immer weiter, bis ganz nach unten zwischen meine Beine und an meinen Po. Und ich war wie gelähmt und habe gehofft, dass mir da jemand hilft“, berichtet die Schauspielerin Aileen Lakatos. Lisa Marie Stojčev, ebenfalls Schauspielerin, fügt hinzu: „Hinterher dachte ich komischerweise, dass ich gut gespielt habe. Erst später habe ich gemerkt, das ich gar nicht gespielt habe. Ich habe geweint, weil ich belästigt wurde.“.

„Wenn es mir gelänge, an dieser Universität aufgenommen zu werden, würde ich meine neue Rolle nutzen, um einen Film darüber zu drehen“

Am Casting für diesen Film, der bislang noch nicht ausgestrahlt wurde, haben ungefähr hundert Schauspielerinnen teilgenommen. Mehrere Frauen haben danach auf einer Online-Plattform berichtet, was sie erlebt haben. 14 von ihnen haben rechtliche Schritte eingeleitet – darunter auch die jungen Frauen aus dem Dokumentarfilm.

Diese Enthüllungen sind leider kein Einzelfall. Im Oktober 2017 wurde im Weinstein-Skandal aufgedeckt, dass der einflussreiche Hollywood-Produzent mehr als 80 Frauen sexuell belästigt und vergewaltigt hat. In der Folge löste die #MeToo-Bewegung in den sozialen Medien eine Welle von Vorwürfen zu sexueller Belästigung und Machtmissbrauch aus. 2018 stellte eine Studie unter Leitung von Thomas Schmidt fest, dass 59% der Frauen an deutschen Theatern bereits Opfer von Machtmissbrauch wurden.

Im Theater unter sich

Bevor sie Regisseurin wurde hat Alison Kuhn eine Karriere als Schauspielerin begonnen. Im Jahr 2015 hat auch sie an jenem Casting teilgenommen und es dann mehrere Jahre lang verdrängt. Eines Tages, als sie sich entscheidet, die Aufnahmeprüfung an der Filmuniversität Babelsberg zu versuchen, trifft sie auf einen anderen Bewerber, der zufällig eine derjenigen Personen ist, vor denen sie damals vorgesprochen hat. Als sie ihn auf den Missbrauch während des Castings anspricht, bestreitet der Mann jegliches Fehlverhalten. „An diesem Tag habe ich entschieden den Dokumentarfilm zu drehen. Wenn es mir gelänge, an dieser Universität aufgenommen zu werden, würde ich meine neue Rolle (als Regisseurin, Anm. d. Red.) nutzen, um einen Film darüber zu drehen“, erzählt die junge Frau.

Der gesamte Film „The case you“ wurde auf einer Theaterbühne gedreht. Laut Alison Kuhn ist das ein Ort, mit dem sich die Protagonistinnen identifizieren und wo sie sich wohlfühlen. Auf der von Scheinwerfern beleuchteten Bühne rekonstruieren die fünf jungen Frauen den Verlauf des Castings. „Ich glaube, dass der Raum noch größer war, noch länger“. „Hier stand ein Mikro“, sagt eine der Schauspielerinnen und befestigt ein Klebeband.

The Case you
The case you ©Lenn Lamster

Alles wird gefilmt, nichts versteckt, nicht einmal die Kamerafrau, die immer wieder im Bild auftaucht. „Ich wollte ganz offen arbeiten. Das ist eine Herangehensweise ähnlich der im Cinéma vérité. Kameramann, Tontechniker etc. Ich wollte, dass wir alle am Film teilhaben. Ich wollte nichts herausschneiden, weil es nicht schön ist oder es nicht reingehört“, ergänzt die Regisseurin. Sie wollte genau das Gegenteil des Casting-Regisseurs, der seine Absichten nicht klar kommuniziert hatte, machen. Der Dokumentarfilm ermöglicht es den Protagonistinnen, sich ihrer Arbeit und ihrer Vorsprechens wieder zu ermächtigen.

Im Laufe der Interviews und Performances, die sich im Film abwechseln, wird die Komplexität der Angelegenheit deutlich. Dies war auch die Absicht der Regisseurin. Während des Vorsprechens wurden die Schauspielerinnen alle unterschiedlich behandelt, wie Alison erklärt: „Einige sagen: ,Bei mir ist überhaupt nichts passiertʻ, andere wiederum wurden in den Intimbereich gebissen. Ich gehörte nicht zu denjenigen, die die schlimmsten Dinge erlebt haben, aber es war eine sehr unangenehme Situation für mich.

Zwischen zwei Herzschlägen

Das Reiben von Haut an Haut, Atmen, Herzschläge: Durch das minimalistische Sounddesign von Dascha Dauenhauer entsteht für den Zuschauer eine faszinierende und bisweilen sogar beängstigende Stimmung. „Meine Idee war, die Musik nur durch Töne zu erzeugen, die wir mit unseren Körpern machen können. Ich wollte diesen Grad an Körperlichkeit, weil es auch ein Film über die Wiedererlangung der Kontrolle über den eigenen Körper ist“, berichtet die Regisseurin. Die kurzen Passagen mit Musik verstärken die Emotionen der Protagonistinnen, ohne aber deren Aussagen zu dramatisieren. Der Dokumentarfilm wurde beim 42. Max Ophüls Filmfestival mit dem Preis für die Beste Musik in der Kategorie Dokumentarfilm ausgezeichnet.

Der Name des betroffenen Regisseurs wird nie genannt. Dies hat zum einen rechtliche Gründe, aber vor allem ging es darum, die Aufmerksamkeit auf die Erfahrungen der Schauspielerinnen zu richten. „Ihre Stimmen sind wichtiger“, stellt Alison Kuhn klar.

Und diese Stimmen scheinen bei vielen Frauen auf Resonanz zu stoßen. Seit Filmstart haben die Regisseurin und die Schauspielerinnen von „The Case You“ zahlreiche Nachrichten erhalten, in denen von ähnlichen Erlebnissen berichtet wird. Es gibt noch kein gerichtliches Urteil.


Titelfoto: ©Lenn Lamster

Der Film wurde im Mai 2021 im Rahmen des Millenium-Festivals gezeigt.

Story by

Margot Houget

Former master student in journalism at the ULB (Brussels) and BA at Universität Augsburg, Germany

Translated from « The Case You » : l'audition cauchemar de cinq actrices