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Taschenspielertrick? Großbritannien setzt auf ‘Big Society’

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Sparen auf dem Rücken von Freiwilligen? Die so genannte 'Big Society' ist das gesellschaftliche Thema Nr. 1 in Großbritannien und wird nach wie vor heftig debattiert. Dabei geht es nicht nur um David Camerons Zukunftsvision einer zivilpolitisch engagierten Gesellschaft, sondern vor allem auch um die harten Haushaltskürzungen der konservativ-liberaldemokratischen Koalition.

Die ‘Big Society’, das gesellschaftspolitische Herzstück der konservativ-liberaldemokratischen Regierungskoalition, ist über die Grenzen der politischen Kreise in Westminster fester Bestandteil einer heftig geführten öffentlichen Debatte im Vereinigten Königreich. Ziel von David Camerons „politischer Mission“ ist es, Wohlfahrtsabhängigkeit, zerbrochene Familien, Kriminalität, antisoziales Verhalten und das mangelnde Gemeinschaftswesen zu bekämpfen und Eigeninitiativen zu fördern. Dabei soll sich der Staat aus sämtlichen öffentlichen Bereichen – Ausnahmen bilden das Justizsystem und die nationale Sicherheit – zurückziehen. Die vage gehaltene Idee bedeutet auf praktischer Ebene, „dass Freiwilligenvereine, soziale Unternehmen und Wohltätigkeitsverbände die Kontrolle über Dienstleistungen wie Bibliotheken, Forstwirtschaften oder auch öffentliche Toiletten übernehmen sollen“, so Peter Rasony, Großbritannienexperte der Neuen Zürcher Zeitung.

Geht Big Society zu weit? Selbst öffentliche Toiletten werden geschlossen

Im Jahr 2009 reihte sich die britische Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt im europäischen Vergleich mit 11.4% hinter der Irlands, noch vor der Spaniens ein. Zudem zwingen die steigende Inflation und die einbrechenden Steuereinnahmen, die seit Mai 2010 regierende konservativ-liberaldemokratische Koalition zu einem rigiden Sparkurs. 128 Milliarden britische Pfund [ca. 142 Milliarden Euro] möchte der Premierminister in den kommenden vier Jahren einsparen. Dies bedeutet, so Peter Nonnenmacher von der deutschen ZEIT, dass „die finanzielle Ausstattung der Gemeindeverwaltungen um ein Drittel gekürzt werden, Kulturverbände neue, private Einnahmequellen generieren sollen und sich britische Hochschulen auf eine vierzigprozentige Subventionskürzung einstellen müssen.“

Camerons Taschenspielertrick

Es ist hauptsächlich die zeitliche Überschneidung von Camerons Vision eines reduzierten Staates, die der Premierminister schon in den Oppositionsjahren propagierte, und den Haushaltskürzungen der konservativ-liberaldemokratischen Regierung im Zuge der Finanzkrise, die zu massivem Unmut gegenüber der ‘Big Society’ führt. Größter Kritikpunkt ist, dass die Idee, den Menschen mehr Verantwortung zu überlassen, zuvorderst ein Taschenspielertrick ist, um die Haushaltskürzungen für Sozialabgaben zu verdecken. Kritiker bemängeln zudem, dass die britische Gesellschaft ohnehin sozial engagiert und spendierfreudig sei.

Andere kritisieren, dass die Big Society nur scheinbar ein gesamtgesellschaftliches Projekt ist und es sich in Wirklichkeit um ein geistiges Erbe des Marktliberalismus Margaret Thatchers handelt. Wie in den 1980er Jahren gehe es erstrangig um ein politisches Sparprogramm. „Der Staat ist, wie bei Thatcher, nicht Teil der Lösung sondern Teil des Problems“, so Ben Kisby, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Bristol. Das individualistische, alles dem Markt unterordnende Gesellschaftsbild Thatchers (‘there is no such thing as society’) habe jedoch wesentlich zur Zerstörung der vormals existierenden ‘Big Society‘ beigetragen.

Ein Kommentator der den Haushaltskürzungen gegenüber positiv eingestellten Financial Times merkt an, dass die Idee der Big Society eher auf emotionaler Ebene zu orten sei, ohne konkrete Handlungsanweisungen zu geben. Es sei jedoch völlig offen, ob ein Rückzug des Staates automatisch freiwillige Organisationen entstehen lasse. Im Bereich der Bildung kommt es bedingt durch die Kürzungen zunächst einmal zu erhöhten Studiengebühren und Angebotslücken, die (noch) nicht geschlossen werden können.

Wieviel staatliche Intervention braucht das Land?

Im Kern der Auseinandersetzung geht es auch um die Frage wie viel staatliche Intervention das Vereinigte Königreich braucht. Denn, so der Premierminister, „in Zukunft soll der Staat nicht erklären müssen, warum er in manchen Bereichen mehr Wettbewerb unterstützt, sondern erläutern, warum er überhaupt die Verantwortung über Bereiche wie Gesundheit und Bildung trägt.“ Auf der anderen Seite ist fraglich, ob die Opposition um Labourführer Ed Milliband angesichts der Haushaltslage Alternativen zum derzeitigen Sparpaket der Regierung anbieten könnte.

Eine Verdreifachung der Semestergebühren könnte anstehen

Der augenscheinlichste Unterschied zwischen Thatcher und Cameron liegt dann auch in Camerons Wunsch einer geeinten Gesellschaft und seiner Ablehnung gegenüber individualistischer Tendenzen des Neoliberalismus. Cameron bemüht daher offensichtlich John F. Kennedys Vision: „Frage nicht was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“ Eine klare Abkehr des neoliberalen Projekts, in dem der „freie Mann weder fragt was er für sein Land, noch was sein Land für ihn tun kann“ (Milton Friedman), sondern hauptsächlich auf seine eigene Freiheit bedacht ist.

Vielleicht ist die Big Society aber auch zuvorderst ein Versuch, die Tories von innen zu reformieren, Thatchers Konservatismus durch ein dem liberalismuskritischen Zeitgeist entsprechendes, moderneres Gesellschaftsbild zu ersetzen und die Attraktivität der Conservatives gegenüber potentiellen Wählern zu erhöhen. Offen bleibt jedoch, ob David Cameron angesichts der massiven Proteste gegen das Sparprogramm der Regierung und der ‘Big Society’ genügend Ausdauer besitzt, um das in den Kinderschuhen steckende Projekt endlich mit konkreteren Inhalten zu füllen.

Fotos:  Homepage (cc)chrisjohnbeckett/flickr; Cameron (cc)conservativeparty/flickr; Einmann-Protest(cc)beckylovell/flickr