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Systembruch in der deutschen Alterssicherung

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In Deutschland bahnt sich in der Rentenpolitik ein Systemwechsel an. Löst er die sozialen Probleme des Landes oder ist er nicht vielmehr Folge eines gesamteuropäischen Politikwechsels?

Fragen der Alterssicherung stehen derzeit in vielen Ländern der Europäischen Union (EU) ganz oben auf der politischen Agenda. Diskutiert wird angesichts der stark angestiegenen öffentlichen Verschuldung über die Ziele und Konzeptionen der staatlichen Alterssicherung, die Aufgabenverteilung zwischen öffentlichen Institutionen und privaten Akteuren sowie deren Umfang und Struktur. In Deutschland ist nach kontrovers geführten Diskussionen im Jahr 2001 ein umfangreiches Reformpaket in Kraft getreten. Das „Herzstück“ dieser Rentenreform ist, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung (GRV) teilweise durch private kapitalfundierte Altervorsorge ersetzt wird. Die GRV, deren Leistungen für den Großteil der deutschen Bevölkerung bisher die dominierende Einkommensquelle im Alter darstellt, erfährt damit einen grundlegenden Wandel und einen nicht unerheblichen Bedeutungsverlust.

Rentenreform 2001 kündigt bestehende Prinzipien auf

Die Notwendigkeit einer Reform wurde – offiziell – mit der Alterung der Bevölkerung sowie den auf hohem Niveau befindlichen Lohn(neben)kosten und Sozialabgaben begründet. Deshalb ist in allen Zweigen der Sozialversicherung die Beitragssatzstabilisierung zum vorherrschenden Dogma geworden. Die bislang leistungsorientierte GRV wird sukzessive zu einem beitragsorientierten System umgewandelt, der Beitragssatz gleichzeitig auf unter 20% „eingefroren“. Letzteres hat erstens die spürbare Senkung des Rentenniveaus der GRV sowie zweitens die partielle Substitution – und nicht Ergänzung – der bislang umlagefinanzierten durch eine private kapitalfundierte Altersvorsorge zur Folge. Dadurch zieht sich der Staat als Versorger zugunsten des Marktes zurück, um – so zumindest das Kalkül der Bundesregierung – die öffentlichen Haushalte von den „Belastungen“ der umlagefinanzierten GRV zu befreien. Allerdings ist die private Vorsorge für den Versicherten mit neuen Risiken verbunden. Diese ergeben sich direkt aus der Vermögensanlage auf den internationalen Finanzmärkten mit ihren inhärenten Instabilitäten und aus den mit der globalen Vermögensanlage einher gehenden Inflations- und Wechselkursrisiken. Daher ist heute weder der nominale noch der reale Wert der privaten Altersvorsorge von morgen vorhersagbar.

Reformbegründungen zweifelhaft – Reformwege nicht zwingend

Wie ist zu erklären, dass diese Rentenreform verabschiedet und realisiert wurde, die ganz augenscheinlich nicht vorrangig die Sicherung der Alterseinkünfte zum Ziel hat? Schließlich stand die GRV auch in den letzten Jahrzehnten immer wieder vor ähnlichen Herausforderungen. Wie damals sind auch künftig Reformen innerhalb des umlagefinanzierten Systems möglich. Hingegen ist ein partieller oder gar vollständiger Wechsel vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren weder wünschenswert noch zwingend erforderlich. Aus der wissenschaftlichen Literatur ist seit langem bekannt, dass das Kapitaldeckungsverfahren in keiner Weise dem Umlageverfahren überlegen ist.

Offensichtlich existieren andere Notwendigkeiten oder Zwänge, die sich erst auf den zweiten Blick erschließen. Wie beschrieben werden zukünftige Rentner durch Leistungskürzungen und zusätzliche Risiken doppelt schlechter gestellt. Wer aber sind die „Gewinner“ dieser Reform? Vorteile entstehen zum einen für Bezieher hoher Einkommen und zum anderen für Arbeitgeber, die nicht an der Finanzierung der privaten Vorsorge beteiligt werden. In erster Linie aber eröffnet sich für private Finanzdienstleister wie Versicherungen und Pensionsfonds ein Betätigungsfeld mit erheblichen Wachstums- und Profitmöglichkeiten. Dass die Reform unter dem Einfluss dieser Akteure in deren Interesse gestaltet wurde, wird vielfach gemutmaßt, ist bisher aber nicht faktisch belegt worden.

Politische Prioritätensetzung

Festzuhalten bleibt, dass die Rentenreform in Deutschland nicht der Sicherung der Alterseinkünfte der zukünftigen Leistungsbezieher dient, sondern eine Unterordnung und Instrumentalisierung der Alterssicherung gegenüber anderen, primär finanz- und wirtschaftspolitischen, Zielen bedeutet. In diesem Sinne spiegeln die implementierten, aber auch die bereits neu geplanten Rentenreformen in Deutschland exemplarisch einen gesamteuropäischen Prozess wider: die EU ist ebenfalls auf die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen und auf die Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit fixiert. So hat der Europäische Rat von Lissabon im Jahr 2000 explizit ein neues strategisches Ziel für das kommende Jahrzehnt gesetzt. Demnach soll sich die EU bis 2010 zum wettbewerbsbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt entwickeln. Auf die Erfüllung dieses Oberziels sind sämtliche Politikfelder auszurichten, auch die Sozialpolitik. Verwundern sollte diese europäische Entwicklung nicht. Zwar wird mitunter argumentiert, die Offenheit der Gründungsverträge eröffne auch der sozialen Integration den Weg, d.h. dass die Gemeinschaft von Anfang an als Wirtschafts- und Sozialraum gedacht war. Diese Vorstellung entspringt jedoch dem Wunschdenken von Europa-Idealisten. Faktisch ist die EU heute in erster Linie eine Wirtschafts- und Währungsunion – und keine Sozialunion.

Eine Alternative für Europa…

Nicht nur angesichts einer weitgehend globalisierten Welt – sondern grundsätzlich – stellt sich die Frage, auf welcher politischen Ebene sozialpolitische Entscheidungen getroffen werden sollten. Ist eine Verlagerung von der nationalen auf die europäische Ebene erforderlich oder überhaupt wünschenswert? Zumindest der Europäische Konvent strebt diese Verlagerung an und versucht die soziale Dimension der EU im Hinblick auf Werte, Ziele und Grundrechte zu stärken – ein Novum in der Geschichte der europäischen Integration. Zu kritisieren ist, dass auch der Konvent den Bedürfnissen des Binnenmarktes und des freien Wettbewerbs Vorrang gibt vor dem öffentlichen Interesse und der Sozialpolitik.

Worin besteht die Alternative für Europa? Auf nationaler wie europäischer Ebene sollten die originären Ziele und Aufgaben der Sozialpolitik als Leitbild in der Politik dienen. Diese Prioritätensetzung würde den Reformen in der EU eine andere Richtung geben. Die EU ist in der Lage, solche Reformen anzuregen und zu unterstützen. Bislang fehlt dafür der politische Wille – die Forderung nach einer sozialen EU bleibt bestehen.

…oder ein alternatives Europa?

Eine unrealistische Forderung, solange sich Staaten und Staatenbündnisse weltweit überwiegend am ökonomischen Wachstum messen und an diesem Kriterium ihre gesamte Politik ausrichten. In diesem Umfeld bedeutet die Alterssicherung und damit der alte Mensch lediglich eine „finanzielle Belastung“, die minimiert werden muss, um die öffentlichen Haushalte und den Produktionsfaktor „Arbeit“ zu entlasten. So mutiert der durchaus erfreuliche Anstieg der Lebenserwartung zu einem Finanzierungsproblem.

Daher basiert der Vorschlag für ein alternatives Europa auf der grundsätzlichen Forderung, die Politik am Menschen bzw. an dessen Bedürfnissen zu orientieren. Ob diese Umorientierung innerhalb des herrschenden Wirtschaftssystems prinzipiell möglich wäre oder sich grundsätzlich widerspricht, darüber streiten nicht nur die Verfasser dieses Artikels. Dennoch gilt es, gerade aufgrund der scheinbaren Alternativlosigkeit Ideen zu entwickeln, die über die Grenzen der nahezu weltweiten Fixierung auf Profit und Wachstum hinausgehen. Ein Europa, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert, ist eine wirkliche Alternative!