Sylvana Simons: „Rassismus ist in Holland eine Institution“
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Katha KlossKann ein Fernsehstar eine Nation verändern? Die Holländerin Sylvana Simons (46) hat Ende 2016 ihre eigene politische Initiative Art1kel ins Leben gerufen, um es zumindest zu versuchen. Damit will sie die Niederlande von ihrem strukturellen und institutionalisierten Rassismus befreien. Aber um ans Ziel zu kommen, braucht sie Stimmen zu den Parlamentswahlen in Holland am 15. März.
Ein Kaffee Latte ‘à la Simons’ wird im Glas und mit drei Stück Zucker serviert. Als der Kellner im Dauphine, im Südosten von Amsterdam, mit dem Kaffee kommt, lacht Sylvana Simons: „Manchmal muss ich nicht mal mehr danach fragen.“ Simons ist ein Star in Holland und sie weiß es: „Ich hatte ein außergewöhnliches Leben“, gibt sie ohne einen Moment zu zögern oder geniert zu sein zu. „Vertrau mir. Ich mache keine Witze. Ich sollte ein Buch über mein Leben schreiben“, witzelt sie.
2016 rief die Ex-Ballerina und TV-Moderatorin ihre eigene Partei Art1kel ins Leben, mit der sie zu den Wahlen am 15. März 2017 fehlende Chancengleichheit und Rassismus in den Niederlanden bekämpfen will. Am Mittwoch, dem großen Termin an den holländischen Urnen, hofft sie auf einen Sitz im niederländischen Parlament.
Simons wurde 1971 „unter holländischer Flagge, aber auf der anderen Seite der Welt“ in Paramaribo geboren, der Hauptstadt von Surinam. Sie ist die jüngste von 16 Geschwistern und war schon immer „die Beliebteste“. Als Surinam 1975 unabhängig wurde, war Simons bereits in Europa, genauer gesagt im Stadtteil Amsterdam West, „eine der multi-ethnischen Gegenden zu dieser Zeit“. Als sie 10 Jahre alt war, zog ihre Familie nach Hoorn. Und genau dort, in einer kleinen und dunklen friesischen Stadt, forderte das Mädchen sein Schicksal heraus. „Ich wollte eine berühmte Ballerina werden.“ Das einzige Problem war zu dieser Zeit ihr Name, der nicht so ganz ins Bild passte. Und so wurde aus Silvana 'Sylvana'.
Man kann das Mädchen aus Amsterdam rausnehmen, aber man kann Amsterdam nicht aus dem Mädchen rausnehmen. In den Achtzigern kehrt die Teenagerin in das Venedig des Nordens zurück, um hier an der Ballettschule zu lernen. Die Hauptstadt, mit ihren Attraktionen und Ablenkungsmöglichkeiten, hat sie überzeugt und sie gibt zu: „Ich war nie die typische Studentin. Ich habe an der Schule des Lebens gelernt.“ Am Ende hat der Familienliebling die klassische Tanzausbildung nie abgeschlossen. Und trotzdem wurde sie eine professionelle Ballerina und tourte für eine Weile um die ganze Welt.
Im Jahr 1995, sie war gerade 21, tat Simons ihre ersten Schritte im Fernsehen. Sylvana wurde eines der offiziellen Gesichter des größten holländischen Musikkanals TMF Nederland, der einige Jahre sogar größere Einschaltquoten als MTV hatte. Mit der Jahrtausendwende sah man sie zunehmend auf mehreren TV-Kanälen, ab 2012 war sie regelmäßig Gast der bekannten Talkshow De Wereld Draait Door (Die Welt dreht sich doch). So hielt Sylvana Simons Einzug in holländische Wohnzimmer.
In einer Ecke des Café Dauphine frage ich in aller Ehrlichkeit, inwiefern Politik und Rassismus verknüpft sind. Aber, wie ein geflügeltes Wort sagt, einem geschenkten Gaul sollte man nicht ins Maul schauen. Bevor sie antwortet, möchte Sylvana noch schnell ein passioniertes Plädoyer für das Showbiz loswerden: „Auch oberflächliches Entertainment übernimmt eine Rolle: wir alle kommen nach der Arbeit heim, um zu entspannen“. Dann kommt sie auf die ursprüngliche Frage zurück: „Ich habe schon immer sehr aufgepasst, mit wem ich mich umgebe“, auch wenn das Rampenlicht der Gesellschaft des Spektakels ihr hätte zu Kopf steigen können. Sylvana gestikuliert mit ihrem Arm, ihr Lippenstift ist genauso dunkelrot wie das Sofa, auf dem sie sitzt, während sie auf ihrer persönlichen Timeline hin- und herspringt und mich auffordert „dranzubleiben“.
Als junges Mädchen in Hoorn „ging es zu Hause oft um Philosophie und Politik. Es waren immer Freunde der Familie zum Essen da. Als Letztgeborene der Geschwisterbande war sie „bereits als Erwaschsene geboren“, so sagt sie. Ihr Vater, der ein wichtiges Idol darstellt, sei hart aber herzlich gewesen. „Politik mit Gleichgültigkeit begegnen? Das war bei uns ein Unding“, sagt sie, als säße er gerade neben ihr. Sylvanas Geschichte ist keine typische Einwandererstory einer Self-Made-Woman. „Meinen Eltern ging es ziemlich gut und ich hatte eine privilegierte Kindheit.“
Rassismus in den Niederlanden strukturell verankert
Einer Open Society-Studie zufolge sind Menschen mit Migrationshintergrund in Holland dreimal anfälliger dafür, von der Polizei angehalten und befragt zu werden als Holländer ohne Migrationshintergrund. Sylvana weiß genau, wie sich das anfühlt: „Ich hatte gerade angefangen für TMF zu arbeiten und habe mir einen nagelneuen Sportwagen gekauft. Eines Nachts war ich damit unterwegs und der Freund auf dem Beifahrersitz trug ein Bandana auf dem Kopf. Ich trug damals eine Kurzhaarfrisur und von hinten konnte man uns für zwei Männer halten.“ Und plötzlich wurden sie scheinbar grundlos von einer Polizeistreife angehalten. „Wir hatten nichts verbrochen. Aber oftmals ist das völlig egal. Auch heute gilt wohl noch, dass zwei Farbige in einem Sportwagen nicht Gutes verheißen.“
Sylvana Simons bei einem TedX-Talk 2013
Simons klingt sarkastisch, wenn sie diese Geschichte wiederholt. Besonders der „erstaunte Blick“ im Gesicht des Polizisten, als er merkte, er hatte einen Fehler begangen, daran kann sie sich genau erinnern. Solche Vorkommnisse seien heute genauso häufig wie noch zu Zeiten ihres Vaters. Aber es sei auch falsch zu behaupten, ihr ganzes Leben drehe sich nun nur um solch einen Vorfall. „Nachdem ich TMF für ein Kulturprogramm verlassen hatte, habe ich versucht über dieses meinen Horizont zu erweitern und meine Kenntnisse weiter auszubauen. Und dabei ist mir aufgefallen, dass all diese Vorkommnisse eine Gemeinsamkeit aufwiesen - Rassismus ist in den Niederlanden strukturell und institutional verankert.“
Artikel 1 der holländischen Verfassung sagt: Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt. Niemand darf wegen seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Anschauungen, seiner Rasse, seines Geschlechtes oder aus anderen Gründen diskriminiert werden. Genau dieser Paragraf bewegte Sylvana Simons dazu, ihre gleichnamige Partei Art1kel im Dezember 2016 ins Leben zu rufen. Aber ist eine neue Partei in Zeiten von Anti-Establishment-Rhetorik wirklich der richtige Weg, um Rassismus entgegenzuwirken?
Sylvana Simons hat keine Zweifel daran: „Wenn Du ein Problem angehen willst, musst du es an der Wurzel beheben“, so die frischgebackene Politikerin. „Wenn Rassismus also institutionalisiert ist, dann müssen wir eben die Institutionen von Grund auf ändern. Deshalb müssen wir ins Parlament.“
Politisch wachsen und Erwachsenwerden
Sylvanas ganzes Leben scheint immer ein Kompromiss aus Idealismus und Pragmatismus. Vom geschmissenen Studium bis zu ihren ersten Schritten im TV bis zum Karrierewechsel, damit „ich sichergehen kann, dass meine Kinder später nicht unter den gleichen Diskriminierungen leiden müssen wie ihre Eltern.“ Dann lacht sie und sagt, sie sei wohl erwachsen geworden. „Ich hatte schon immer Ideale, aber das Bewusstsein darüber, jetzt aufzustehen und zu kämpfen, war noch nie so stark wie heute. Wenn mich die Leute fragen, warum ich die Entscheidungen getroffen habe, die ich getroffen habe, dann sage ich ihnen, dass es einfach Zeit war und ich mich bereit fühlte.“
Aber nicht alle glauben an Sylvana Simons. Einige argumentieren, ihr Sieg würde nur wenig dazu beitragen, fremdenfeindliche Verhaltensmuster zu ändern. Viele prangern an, dass der ehemalige TV-Star sich nur persönlich bereichern wolle, dass der einzige Link zwischen den verschiedenen Karrierestufen der Durst nach Erfolg sei. Art1kel ist nicht Sylvana Simons erster Versuch, in der Politik Fuß zu fassen. Anfang 2016 bereits wurde Denk (Denk! auch auf dt.) ins Leben gerufen, ein Kollektiv, das sich aus holländischen Bürgern mit marokkanischem oder türkischem Migrationshintergrund bildete. Auch Denk kämpft gegen Diskriminierungen aller Art, besonders im Arbeitsumfeld. Aber die Partei hat eine konservativere Ausrichtung in puncto Wirtschaft, während Sylvana Simons sich eher links verortet und „die Lücke, welche die holländischen Sozialdemokraten (PvdA) haben aufklaffen lassen“ besetzen will. Ende 2016 führten unüberwindliche Meinungsverschiedenheiten dazu, dass Sylvana Denk den Rücken kehrte und Art1kel gründete.
Warum sie Denk verlassen hat? Die Art1kel-Chefin schaut einen Moment beiseite und kommt dann mit verschränkten Fingern nochmals auf den Fall zu sprechen. Sie scheint zu verstehen, dass diese Frage viele Menschen beschäftigt, besonders diejenigen, die sich von der feindlichen Rhetorik eines Geert Wilders (PVV) eingeschüchtert fühlen und nichts als eine tief gespaltene politische Landschaft wahrnehmen. „Ich will ehrlich sein“, sagt sie. „Eine Partei wie Denk, die so darauf eingespielt ist anti-Establishment zu sein, wird bald ausbrennen. Was wir brauchen, ist ein Projekt, das niemanden ausschließt; eins, das auch die weiße holländische Bevölkerung mit einbezieht.“
Simons fügt hinzu, dass ihr Austritt aus Denk nach einer längeren Phase der Konfrontation forciert wurde: „Meine Ideen wurden in der Partei nicht ernst genug genommen. Mir wurde auch gesagt, dass ich bestimmte Themen während der laufenden Kampagne lieber nicht ansprechen soll, da wir sonst den Konsens verlieren würden.“ War die persönliche Karriere auch ausschlaggebend? „Ich habe viel aufs Spiel gesetzt, um bei Denk mitzumachen. Viele meiner Kunden [Simons hat vorher freischaffend gearbeitet; AdR] wollten nicht mehr mit mir zusammenarbeiten, als sie von meinen politischen Ansichten erfuhren. Wenn alles, was ich wollte, ein Sitz im Parlament gewesen wäre, dann wäre ich doch bei Denk geblieben, das wäre die sichere Schiene gewesen.“
Die Wahlprognosen sagen voraus, dass sowohl Denk als auch Art1kel am 15. März wohl keinen Sitz gewinnen werden, auch wenn die Chancen für Denk besser sind. Für die meisten Menschen wäre die Vorbereitung für eine Kampagne, deren Monate man an einer Hand abzählen kann, wohl ein Todesurteil. Nicht aber für Sylvana Simons. „Wir sind eher eine Partei [als Denk]: wir haben eine starke Aktivisten-Basis und eine gefestigte Bewegung. Wir sind vielleicht noch jung, aber wir haben Ausdauer. Und auch wenn wir diesmal nicht direkt ins Parlament einziehen, dann haben wir umso mehr Zeit zu zeigen, wie sehr wir gebraucht werden.“ Ob Rassismus wohl einfach für viele Menschen keine Priorität sei? Simons schüttelt den Kopf. „Du kannst nicht über Armut, Arbeitslosigkeit und Sexismus sprechen und dann den Rassismus unter den Tisch fallen lassen. Deshalb versuchen wir innerhalb und außerhalb der Partei eine Debatte über Intersektionalität anzustoßen.“
Art1kel ist nicht einfach nur eine Partei, die sich gegen Rassismus stark macht; sie kämpft gegen Ungleichheit an allen Fronten. „Rassismus schleicht sich immer über Ungleichheiten von hinten an“, erklärt sie. Aber wenn Rassismus mit ungleichen Chancen zusammenhängt, warum hat die holländische Linke das Thema dann nicht aufgegriffen? Für Sylvana Simons liegt das Problem in der Glaubwürdigkeit: „Du musst auch das leben, was du predigst. Die linken Parteien bestehen mehrheitlich aus weißen Männern und Frauen. Art1kel ist die einzig wirklich durchmischte Partei.“ Aber in puncto Glaubwürdigkeit will ich zum Schluss dann doch noch wissen, warum sie ihren Namen geändert hat und ob sie das 'Y' nicht doch wieder loswerden möchte. „Weißt du was?“, schaut sie nachdenklich. „Genau das habe ich vor einigen Tagen auch gedacht.“
Translated from Sylvana Simons: "Cambierei il mio nome, per sconfiggere il razzismo in Olanda"