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Stadion-Hymne ade: Die ausgepfiffene Marseillaise

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Steht uns auf den französischen Tribünen eine Revolution bevor? Nachdem die französische Nationalhymne im letzten Oktober bei dem Spiel gegen Tunesien heftig ausgepfiffen wurde, haben zahlreiche Politiker ihr Missfallen bekundet. Das Problem wirft ein Schlaglicht auf die Gesellschaft als Ganzes.

Am 14. Oktober dieses Jahres empfing die französische Nationalelf im Frankreich-Stadion Tunesien. Wenn in der Pariser Region „Les Bleus“ (die Blauen, nach der Farbe ihrer Trikots) gegen eine Mannschaft aus einer der ehemaligen Maghreb-Kolonien (Marokko, Algerien, Tunesien) antreten, so sind die Fans der Gäste stets genauso zahlreich wie die der Gastgeber. Der Ballungsraum Paris beherbergt nämlich eine große Gemeinschaft von afrikastämmigen Menschen. Entweder handelt es sich um Eltern oder Großeltern, die dort geboren wurden und die zum Arbeiten nach Frankreich kamen oder um deren Kinder und Enkel, die entweder in Frankreich geboren wurden oder im Rahmen der Familienzusammenführung dorthin kamen. Dass diese Menschen in Scharen in die Stadien strömen, wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet, die Mannschaft ihres Herkunftslandes zu sehen, ist verständlich und normal. Weniger gilt dies jedoch für die Pfiffe, die die französische Nationalhymne begleiten, wenn eine dieser Mannschaften in Paris spielt. So geschah es bereits im Oktober 2001 bei dem Spiel gegen Algerien und im November 2007 beim Besuch der Marokkaner.

Natürlich haben diese Pfiffe zu zahlreichen Reaktionen französischer Politiker jeder Couleur geführt. Rasch und allen voran erklärte Bernard Laporte, jetziger Sportsstaatssekretär und früherer Trainer des französischen Rugby-Teams, die Lösung könnte darin bestehen, gegen diese Mannschaften nicht mehr in Paris zu spielen. Nachdem bereits am folgenden Tag ein Treffen mit Präsident Nicolas Sarkozy stattfand, verkündete schließlich Roselyne Bachelot, die Ministerin für Jugend und Sport, dass in Zukunft jedes Spiel, bei dem die Marseillaise ausgepfiffen wird, so lange unterbrochen wird, bis die Repräsentanten des Staates das Gelände verlassen haben.

Schmähung der Hymne, warum?

©Yogi_OM/flickrZunächst erinnern diese Pfiffe an all die Unruhen vom Herbst 2005. Von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung sind vor allem die Jugendlichen aus den Vororten betroffen, in denen zahlreiche Familien mit maghrebinischer Herkunft leben. Häufig leben diese Problemgruppen in den gleichen Vierteln, die fernab des Autobahnringes rund um Paris liegen. Über einen Zeitraum von dreißig Jahren hinweg hat sich hier schrittweise eine soziale Kluft entwickelt. Als Grund für die Integrationsschwierigkeiten dieser gebürtigen oder eingebürgerten Franzosen wird häufig ihre Herkunft angegeben.

Eine repräsentative Vertretung von Bevölkerungsgruppen mit ausländischer Herkunft ist in den höchsten Staatsämtern echte Mangelware. Das stimmt, selbst wenn einige Regierungsmitglieder diesen „sichtbaren Minderheiten“ entstammen, was nur einen ersten Schritt hin zu einer notwendigen Einstellungsänderung darstellt. Das vollständige Fehlen von Abgeordneten mit Migrationshintergrund ist wenig hilfreich bei der Integration von Menschen, die sich mitunter in Frankreich nicht als Franzosen und im Maghreb nicht als Maghrebiner fühlen. Der auf das Verhalten von Sportfans spezialisierte Soziologe William Nuytens erinnert in der Tageszeitung Le Monde vom 15. Oktober 2008: „Das Stadium ist einer der wenigen Orte, an denen man sich noch öffentlich äußern kann.“ So ermöglicht das Auspfeifen der Marseillaise es wohl manch einem, sein Unbehagen auszudrücken.

Demonstrationen gegenüber dem Gegner für einen Abend

Auch die aus Tunesien stammende Sängerin Lâam, die die Marseillaise sang, wurde ausgepfiffen.

Doch haben die nach dem Spiel angestellten Nachforschungen gezeigt, welche unterschiedlichen Beweggründe zu derartigen Äußerungen führten: Schon allein die schwierige Lage der französischen Nationalelf nach einer verpatzten EM wie auch die umstrittene Weiterbeschäftigung von Raymond Domenech als Nationaltrainer haben sicherlich viele Zuschauer aus beiden Lagern zu Pfiffen veranlasst. Es fiel ebenfalls auf, dass von allen Spielern der Name des jungen Hatem Ben Arfa die meisten Pfiffe auf sich zog. Dem Spieler tunesischer Herkunft hätte vorgeworfen werden können, dass er das französische Trikot dem tunesischen vorzog. Aus demselben Grund wurde auch die aus Tunesien stammende Sängerin Lâam, die die Marseillaise sang, ausgepfiffen.

Michel Platini, Präsident des europäischen Fußballverbandes (UEFA), erklärte seinerseits, dass es dieses Verhalten bereits in den 1980er Jahren bei den italienischen und polnischen Emigranten gegeben habe. Gehandelt habe es sich „einfach um Demonstrationen gegenüber dem Gegner für einen Abend, den man schlagen will.“ (Le Monde vom 17. Oktober 2008). Tatsächlich sind die Jugendlichen, die die Marseillaise auspfeifen, dieselben, die auf den Straßen die Erfolge von 1998 und 2000 gefeiert haben und die Thierry Henry und Franck Ribéry beim nächsten Spiel wieder anfeuern werden.

Manche Kommentatoren erkennen hierbei auch eine Art Wettbewerb zwischen den Ländern des Maghreb: Die Algerier und die Marokkaner haben gepfiffen, dann müssen das die Tunesier wohl auch tun. Schließlich beschreibt auch der Journalist und Afrikaspezialist Aïda Touhiri, dass während der Austragung des Afrika-Cups 2004 in Tunesien „alle Gegner der Adler von Karthago das Recht auf die gleiche Gunstbezeugung hatten“. Kein Grund also, eine Revolution auszurufen.

Translated from L’hymne national sifflé dans les stades : une polémique française