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Soziale Unternehmen, soziale Netzwerke: Innovationen in Istanbul

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Default profile picture Julia Eichhorst

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In der Türkei nutzen mehr User Facebook als in Deutschland, Großbritannien oder Frankreich. Wörter wie „blond” sind in Domain-Namen verboten und nach Mitternacht fließen auf Twitter die Liebessonnette 2.0 in Strömen. Das Land befindet sich auf der Schwelle eines Paradigmenwechsels.

Junge Veränderer in Istanbul nutzen die begrenzten Möglichkeiten der Online-Werkzeuge um frische Ideen für eine Offline-Gesellschaft aufzuzeigen, die mit der Meinungsfreiheit ringt.

Der Geruch der Fischmarktstände in Karaköy führt uns an ein Café am Ufer, wo der Kellner bedauert, dass es zur sensationellen Aussicht auf das Goldene Horn keinen türkischen Kaffee gibt. „Nicht gerade visionär“, lacht Werbestudent Engin Önder, 20. Er ist Mitglied des Istanbuler Instituts für Kreative Köpfe („Yaratici Fikirler Enstitusu“, ICM), eine Gruppe Mittzwanziger hinter dem Netzwerk von Berufskreativen, das zwei Wochen zuvor „Social Media ins Freie" gebracht hatte. Ihr Bürgerjournalismus-Ableger „140journos“ hatte eine Twitter-Debatte – #notonuclearenergy versus #yestonuclearenergy – live auf den Galata-Turm, eine berühmte Sehenswürdigkeit, projiziert. Ein deutliches Zeichen der Rückeroberung Istanbuls Straßen: so wurde der Ort unterdrückter Proteste unter den weitgefassten Terrorismusgesetzen des Landes mit dem "Tag der Sozialen Medien" am 30. Juni 2012 durch soziale Netzwerke erneut zu einer öffentlichen Diskussionsplattform.

#Medienmassaker: Grenzen ausreizen

„Tahrir war für alle ein großer Weckruf‘, sagt die Journalistin Ahu Ozyurt, die die Debatte im Schatten des Galata-Turms moderierte. Auf einer Dachterrasse in der Nähe des zentralen Taksim-Platzes gehen wir die Schlagzeilen durch: Der Redakteur im Topkapi-Palast; Kinderbräute; Ein Professor aus dem Gefängnis entlassen; Der Ministerpräsident… - kein Wort über die kurdischen Proteste. Türkische Journalisten üben offen Selbstzensur aus, damit sie nicht entlassen, mit einer Geldstrafe belegt oder eingesperrt werden. Ozyurt, die als Bloggerin auf der unabhängigen Nachrichtenseite Gazeteport.com aktiv ist, hält dies für ein Generationsphänomen, das sich auf die Mainstream-Medien beschränkt. Die Lage könnte sich ändern, wenn Bürger wie die Social-Media Pioniere „die Grenzen etwas stärker ausreizen“ – vor allem in der Türkei, wo 50% der 75 Millionen Einwohner unter dreißig sind.

Zurück in Karaköy weicht Önder gekonnt den Wellen aus, die ans Ufer krachen und ab und zu bis an unsere Füße spülen. „Wir haben die Macht, in Echtzeit berichtenswerte Inhalte zu produzieren. Lass uns das doch in öffentlichen Räumen machen, wo Stimmen ansonsten kein Gehör finden, und den Journalismus erhellen“, sagt er. Die 2010 gegründete experimentelle Gruppe drängt mit ihren Ideen über die engen Grenzen der weitverbreiteten universitären Unternehmerkurse hinaus. Engin Önder, Safa Soydan und Oğulcan Ekiz entwickelten ICM, als sie zu Unizeiten in den USA von Konferenzen über den Arabischen Frühling livebloggten. Die Stille der Medien zum Massaker in der größtenteils kurdischen Ortschaft Uludere im Dezember 2011 stand im starken Gegensatz zum Twitter-Sturm, den sie von Washington aus verfolgten.

Die Selbstzensur der Massenmedien kann sich auch auf soziale Netzwerke ausdehnen. „In der Türkei waren Social Media zunächst ziemlich auf Promis und Stars fokussiert und wurden dann relativ politisch. Aber es ist weiterhin nicht wirklich möglich, kurdische Nachrichten zu retweeten“, fügt Ahu hinzu. Dass sie nicht über das Massaker von Uludere berichten konnten, ist für sie „ein Wendepunkt für die türkischen Medien“. „Wir haben die Nachricht um vier Uhr morgens auf Twitter entdeckt; die offizielle Erklärung kam um acht Uhr morgens. 34 Menschen waren gestorben. Es war der Wendepunkt für Twitter. Die Regierung fing an, dem Ganzen Aufmerksamkeit zu schenken. Aber soziale Netzwerke bringen uns auch zurück zur Kaffeehausdebatte. Ich glaube nicht, dass die Regierung das zensieren will [obwohl im August 2012 Gerüchte die Runde machten, die Regierung plane, Twitter und Facebook „zu bestimmten Zeiten“ zu blockieren – A.d.R.]. Die Leute suchen auf Twitter nach Unbeschwertheit.“

#Erdbeben: Online-Community und „echter“ Gemeinschaftssinn

Paradox: die heutige "Offline-Türkei", in der doch die "Online-Stimme" der jungen Türkei enthalten ist

In Cihangir, einem Künstler- und Prominentenviertel in der Nähe des Taksim-Platzes, stellt Twitter-Aktivist Güray Gürsel eine Verbindung zwischen den steigenden Verkaufszahlen von Smartphones im Land und dem wachsenden Aktivismus durch soziale Netzwerke her. Als „Burus Vilis“ präsentiert der einstige Barmusiker und jetziges Social Media-Phänomen eine wöchentliche Radioshow über die beliebtesten Themen auf Twitter. Zu den derzeitigen Top Drei gehören #happybirthdayspongebob, #bigbanggroup und #lookafteryourfreedom über das „One Love“-Musikfestival vom Wochenende. Obwohl es von Efes, der einzigen Biermarke des Landes, gesponsert wird, galt zum ersten Mal ein Alkoholverbot auf dem Fest. Dieses Paradox ist das perfekte Beispiel der heutigen „offline“ Türkei, in der doch die Online-Stimme der jungen Türkei enthalten ist. Vilis unterstreicht die Bedeutung von Twitter für die Gemeinschaft, indem er beschreibt, wie 2010 während des Erdbebens in Van Rettungsaktionen auf der Mikrobloggingseite organisiert und verbreitet wurden. Im selben Jahr kam das iPad auf den Markt.

Die 25 Millionen türkischen Nutzer sind erfolgreich dabei, die sozialen Netzwerke zurück in die „wirkliche Welt“ zu tragen, wie etwa das Start-up Unternehmen zumbara zeigt. Die 29-jährige Aysegul Guzel hat ihren Job als Beraterin und Angestellte einer bedeutenden Handelskette aufgegeben, um die „Timebanking“-Seite im Oktober 2010 aufzubauen. Inspiriert wurde sie von den „bancos del tiempo“ in Barcelona, wo sie lebte. In Istanbul gibt es kein Silicon Valley, aber heute Abend sind wir mit einem Dutzend anderer Leute auf der Netsquared Veranstaltung „Wie man mit sozialer Technologie den sozialen Umbruch fördern kann“. Leere türkische Teebecher säumen die Fenster, die auf den Bosporus hinausgehen.

„Timebanking ist flexibler als die Tauschwirtschaft, weil sich die Kosten der Dienstleistung danach richten, wie viel Zeit sie in Anspruch nimmt“, sagt Guzel. „Ich habe gesehen, dass dem Ganzen der ‚social technology‘ Aspekt fehlte.“ Im Süden der Türkei versteht ihre Großmutter die „Zeit statt Geld“ Initiative ihrer Enkelin als eine Anpassung des lokalen türkischen „imejhe“ Brauchs an die 2.0 Gesellschaft. 80% aller türkischen Start-up Unternehmen haben einen Bezug zur türkischen Kultur, aber Guzel gibt zu, dass ihre Mission oft als Hippie-Bewegung abgetan wird, weil sie in der alternativen Wirtschaft tätig ist.

Die dritte Version wurde am 07. Juli 2012 veröffentlicht. Bislang haben sich über 8.000 User registriert und über 4.000 Tauschdienstleistungen (das entspricht über 500 Stunden Zeit) wahrgenommen.

„Es gibt ein gewisses Misstrauen gegenüber sozialem Engagement. Es wird als revolutionär gesehen“, stimmt Matthias Scheffelmeier zu. Der 28-Jährige ist Landeskoordinator für das globale Netzwerk sozialer Unternehmer bei Ashoka Turkey. Deren Plattform changemakerxchange verbindet Unternehmer wie Guzel und hilft ihnen, soziale Netzwerke und andere Werkzeuge zu nutzen, um Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu entwickeln und zu verbreiten.

„Soziales Engagement wird oft als revolutionär gesehen und misstrauisch betrachtet“

Als Teil ihrer bürgerjournalistischen Initiative "140 Journos" haben Önder und Co. das Jahr 2012 mit Instagramm oder dem Tweeten von Audiointerviews verbracht: vom Jahrestag des Attentats auf Hrant Dink bis zum andauernden Prozess gegen Oda TV. Trotz ihrer Bemühungen, Licht auf die Schreckgespenster von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zu werfen – einem Mann, der Ahu Ozyurt zufolge die Festival-freudige Jugend Istanbuls der „ungezügelten Immoralität“ bezichtigt hat – werden sie mit seinem Büro an einem kulinarischen Tourismus-App zusammenarbeiten. „Weltweit machen Menschen Fotos von Essen, aber türkisches Essen wird vernachlässigt“, sagt Önder, während wir uns zum Lieblingsstraßenverkäufer der Jungs für einen Teller Kichererbsen, Reis und Kidneybohnen aufmachen, der mit Ayran heruntergespült wird. Danach werde ich zu Starbucks eingeladen, damit die Jungs ihre verschiedenen elektronischen Geräte aufladen können, denen während unseres Gesprächs der Saft ausgegangen ist. Nach dem Militärcoup in den Achtzigern (der dritte in der kurzen Geschichte des Landes) war die türkische Jugend größtenteils unpolitisch. Heute stehen sie den über 100 Journalisten und 700 (größtenteils kurdischen) Studenten hinter Gittern zur Seite, bewaffnet mit Smartphones, Tablets und Ideen.

Dieser Artikel ist Teil der fünften Ausgabe des des cafebabel.com-Projekts Orient Express Reporter. Vielen Dank an Burcu Baykurt und Derya Kaya

Fotos: Teaser: mit freundlicher Genehmigung von ©yaraticifikirlerenstitusu.com; im Text: ©NS

Translated from Social entrepreneurs, social media: how to innovate in Istanbul