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Slowakei: Priester sind die neuen Therapeuten

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Gesellschaft

In der Vorweihnachtszeit verzeichnen die katholischen Kirchen in der Slowakei regen Zulauf.

Bratislava, 21. Dezember, früher Abend. Die Stefanskirche in der historischen Altstadt ist bereits seit den frühen Morgenstunden geöffnet. Eine Schlange aus etwa hundert Personen hat sich in ihrem Innern gebildet, zieht sich durch das schlichte Gebäude und drückt sich die hohen, beigen Wände entlang. Die Szene erinnert an eine Wartehalle: Das Gebäude hell erleuchtet, in der Schlange Menschen in Steppjacken und Wollmützen, mit Einkaufstüten und Aktentaschen. Menschen auf dem Heimweg. Auffallend viele junge Menschen. „Kurz vor Heiligabend wollen die Leute ihre Sünden beichten“, erklärt ein sportlich gekleideter Endzwanziger mit gestutztem Bart, den ich in Deutschland nie für einen Kirchgänger gehalten hätte. Zu Weihnachten und zu Ostern, den bedeutendsten Festen der Christen, sind die Katholiken aufgerufen, zu beichten. Dann sind die Kirchen gut besucht, dann wollen die Menschen seelischen Ballast loswerden.

Kabine frei

Um nichts anderes geht es hier: Kurz vor dem massiven Holzaltar biegt die Schlange nach rechts und mündet in einen Nebenraum. Von dort geht es zu den Beichtstühlen. Eine kleine elektronische Anzeige gibt die Belegung der Beichtkabinen an. Gerade haben die Priester Joachim, Robert und Karol Dienst. Neben ihren Namen ein kleines Licht: Leuchtet es rot, ist besetzt, leuchtet es grün, ist die Kabine frei.

Die Schlange: ein steter, träger Fluss. Alle fünf Minuten betritt jemand die Kirche, bekreuzigt sich, kniet kurz nieder und reiht sich hinten ein. Die Hände versinken in den Hosentaschen oder ziehen eine kleine Bibel hervor. Dann wird ausdruckslos gewartet. Fünfzig Minuten, sechzig Minuten, siebzig Minuten. Erst am anderen Ende angelangt, wenn an der Anzeigentafel ein Licht auf grün springt, tritt man ein, rückt der nächste nach, rutscht die Schlange auf. Reglementiert, wie auf dem Amt.

Ich betrachte die Gesichter der Menschen, die die Beichtstühle verlassen, vergleiche sie mit denen der Wartenden und kann keinen Unterschied ausmachen. Auch sie geduldig, im Grunde ausdruckslos. Sie knien kurz vor dem Altar nieder und verlassen das Gebäude, hinaus in die Kälte. Was drinnen passiert, behält man für sich. Ich bin neugierig.

Auch Atheisten sind nett

Er könne die Dinge vergessen, sei nicht mehr deprimiert, wenn er mit einem Priester darüber geredet hat.

Er beichte monatlich, sagt der 19-jährige Jan, den ich vor dem Verlassen der Kirche abfasse. Mit seinem sauber gezogenen Seitenscheitel und den auffallend guten Manieren wirkt der Jurastudent schon eher wie ein Kirchgänger. Was er beichtet? Wenn er sonntags nicht beim Gottesdienst war, Ärger mit der Familie hatte, betrunken war und Dummheiten gemacht hat. Es gehe ihm dann besser, sagt er. Er könne die Dinge vergessen, sei nicht mehr deprimiert, wenn er mit einem Priester darüber geredet hat. Jan stammt aus einer katholischen Familie, war auf einer katholischen Schule, ein Großteil seiner Freunde ist katholisch. Erst jetzt auf der Universität hat er auch mit Atheisten zu tun. Auch die seien nett, sagt er. Freundlich wünscht er mir Frohe Weihnachten und verschwindet in den Abend. Und lässt mich mit der Frage zurück, was junge Menschen in der Slowakei zum Katholizismus führt.

62 Prozent der Slowaken sind römisch-katholisch, etwa 10 Prozent evangelisch, 13 Prozent konfessionslos. Zum Vergleich: In Deutschland halten sich katholische und evangelische Kirche mit je 30 Prozent die Waage. Aber: Mehr als 30 Prozent der Deutschen sind konfessionslos. Und nur ein kleiner Teil der Bevölkerung geht tatsächlich zum Gottesdienst. Ganz anders in der Slowakei: Der Einfluss der Kirche steigt hier stetig. In Zeiten des Kommunismus wurde die Religionsausübung zwar unterdrückt, schon in den Nachwendejahren hatte die Kirche aber wieder großen Zulauf, besonders von jungen Menschen. War sie Orientierungshilfe? Auffangbecken? Bollwerk gegen einsetzendes Konsumdenken?

Ich frage Helena, die kurz nach Jan die Kirche verlässt. Den Glauben entdeckte sie während ihrer Studienzeit für sich, sagt die hochgewachsene 32-Jährige mit den großen Augen und der weißen Wollmütze. Zwei bis drei Mal im Monat gehe sie zur Beichte, sagt sie. Sie würde gern öfter beichten, weil es ihr danach besser geht, aber dazu fehle die Zeit. Helena ist Projektmanagerin, koordiniert die Verwendung von EU-Geldern.

Bei ihren Beichten geht es vor allem um Familienprobleme. Ihre Mutter spricht nicht mit ihrem Bruder, der spricht nicht mit der Mutter. Wollen beide dem anderen etwas sagen, wenden sie sich immer nur an sie. „Manchmal ist es zu viel und dann verliere ich den Glauben und die Geduld.“

Priester als neue Therapeuten

Im Schnitt dauere eine Beichte fünf Minuten. Natürlich könne man da viele Themen nur anreißen, hilfreich sei es dennoch. Die Qualität hänge allerdings vom Priester ab – ob er sich Zeit nimmt, ob er versteht, ob er offen ist. Viele Leute hätten gar einen Lieblingspriester. Stehen Sie am Ende der Schlange und das grüne Licht leuchtet bei einem anderen, lassen sie den Nächsten in der Reihe vor. Ja, räumt Helena ein, die Beichte ähnle dem Besuch beim Therapeuten, aber das mache es nicht weniger wertvoll. Meine Frage bleibt: Warum dann Katholizismus?

Menschen, die religiös sind, seien vielleicht die besseren Menschen, mutmaßt der 21-jährige Michal auf dem Weg nach draußen. Der Architekturstudent kommt ebenfalls aus einem katholischen Elternhaus, auch seine Freunde sind katholisch. Michal wiegt jede Antwort sorgfältig ab. Auf die Frage, warum er glaubt, weiß er zunächst keine. Auf der Kirchenbank bekomme er einen freien Kopf, sagt er nach langem Überlegen. Freizeit nennt er das.

Der Gottesdienst beginnt: Ein junger Mann mit Gitarre singt ein Lied, der Text wird, wie in einer Karaoke-Bar, auf eine Leinwand projiziert. Der Priester, ein Mittvierziger mit kurzgeschorenen Haaren und randloser Brille, predigt. Eine Schar als Engel verkleidete Kinder spielt eine Szene aus der Bibel. Danach wieder Musik, mit Texten zum Mitsingen. Und da verstehe ich: Alle singen mit. Alle.

Glaube in der Slowakei scheint etwas Alltägliches, oft Unhinterfragtes zu sein. Für die Alten etwas stets Dagewesenes, für viele Jungen etwas aus der Elterngeneration Übernommenes oder selbst Entdecktes. Aber immer etwas Natürliches, das seinen festen Platz im Alltag hat. Samt elektronischer Anzeigentafel, Video-Beamer und langen Wartezeiten.

Illustrationen: (cc)Julie Badin/flickr