Sibirien : Zwischen Datscha und Wodka
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beatrice pagelMascha lebt in Irkutsk. Sie wehrt sich gegen den Alkoholkonsum und das Frauenbild ihrer Landsleute. Trotzdem glaubt sie nicht, dass früher alles besser war.
Mascha kommt pünktlich zu unserem Treffen. Sie wirkt selbstbewusst und lächelt freundlich. Ohne zu zögern nimmt sie uns mit an das Flussufer der Angara, die sich an Irkutsk vorbeischlängelt. Irkutsk liegt im Süd-Osten Russlands, etwa sechs Flugstunden von Moskau und sechzig Kilometer vom Baikalsee entfernt. Es ist ein sonniger sibirischer Abend und wir sind nicht die einzigen, die die Dämmerung genießen. In ihren Jeans und dem roten T-Shirt mit aufgedruckten Matroschkas entspricht Mascha nicht gerade dem Klischee einer typischen Juristin.
Ein Häuschen im Grünen
Doch auch wenn man es ihr nicht ansieht, arbeitet die 25-Jährige in einer der vielen Firmen, die in der unmittelbaren Umgebung des Baikalsees angesiedelt sind. Ein Stück weiter den Fluss hinunter entdeckt man in der Nähe der Bürogebäude eine Siedlung aus kleinen Landhäusern. „Das ist heutzutage sehr beliebt“ erzählt Mascha. „Die Leute verlassen die Stadt, um sich ein Häuschen im Grünen zuzulegen.“ Sommerhäuser, so genannte Datschen, haben eine lange Tradition in Russland. Aber erst seit den letzten Jahren des Kommunismus sind sie nicht mehr nur den Eliten vorbehalten. Dank der „Gartenarbeitsgenossenschaften“ konnten sich die Moskauer eine Auszeit auf dem Land nehmen und sich dem Gemüseanbau widmen. Heute besitzen zwei Drittel der Hauptstädter eine Datscha.
Seit den neunziger Jahren hat die wirtschaftliche Entwicklung den Aufschwung der Datschen vorangetrieben. Sie wurden komfortabler und luxuriöser ausgestattet. So konnten viele der Datschen, wie die Häuser am Baikalsee, zu festen Wohnsitzen werden. Die Neureichen und besonders die „neuen Russen“ verlassen seither immer häufiger die Innenstädte, um in den Datschen ein ruhigeres und gesünderes Leben zu genießen.
„Früher waren die Leute respektvoller“
In ihrer Kindheit trug Mascha einen kleinen roten Stern mit einem Abbild von Lenin auf der Brust. Sie erinnert sich an die eisigen Winter, in denen sie in der Kälte wartete, um eine Ration Fleisch zu bekommen. „Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, wurde meine Mutter schwanger. Weil das lange Stehen zu anstrengend für sie war, habe ich stattdessen gewartet.“ Die UdSSR und Stalin „sind mehr als nur eine bloße Erinnerung aus meiner Kindheit“, erklärt sie. Maschas Großmutter trauert der Sowjetunion nach: „Früher waren die Geschäfte leer, aber wir bekamen alles, was wir brauchten dank der Essensmarken. Heute sind die Geschäfte ebenso leer, aber wir brauchen Geld, um einzukaufen.“
Mascha hört all dem zu und kommt zu der entscheidenden Frage : War früher alles besser ? „Ich weiß es nicht“, gibt sie zu. „Früher waren die Leute respektvoller und zurückhaltender. Man hat sich nicht wie heute auf offener Straße umarmt. Heute trinken die Jugendlichen die ganze Zeit und sie könnten auf dem Rasen des Stadtparks miteinander Sex haben, niemanden würde es stören“.
Die Art und Weise, wie die russischen Jugendlichen Alkohol trinken, ist erstaunlich. Der Konsum von Getränken mit mehr als zwölf Prozent Alkohol ist in der Öffentlichkeit nicht gestattet. Deshalb trinken sie ausschließlich Bier und Alcopops, die eine Mischung aus Limonade und Wodka, Gin oder Tequila sind. Zwar wäre es falsch zu glauben, dass die ganze russische Jugend trinkt. Aber die Mehrheit der 18 bis 25-Jährigen, die man in den Straßen von Moskau sieht, trägt eine Flasche bei sich.
Russische Gastfreundschaft
Wir machen eine Pause in einem Café direkt an der Angara. Um uns herum sitzen trinkende Jugendliche und unterhalten sich lautstark. Den Prototyp eines Trinkers gibt es allerdings nicht : An einer Bushaltestelle teilen sich um drei Uhr nachmittags ein paar junge Mädchen eine botschka. Ein junger Mann steigt mit einer offenen Dose in der Hand in die Metro. Auf einer Parkbank lassen fünf Jugendliche eine Plastikflasche kreisen. Zwei Verliebte liegen am Strand und trinken Soft-Cocktails.
Mascha versteht nicht, weshalb wir das Gebäck und die Getränke dankend ablehnen, die sie uns anbietet. Es macht sie verlegen, dass der Tisch nur mit einer Flasche Bier, einem Tee und einem Saft gedeckt ist. Sie erinnert sich nostalgisch an ihre Babuschka: „Sie würde jetzt sagen, dass ich eine schlechte Gastgeberin sei. Bei uns Russen muss der Tisch immer mit Tellern und Süßwaren überfüllt sein. Meine Großmutter hat mich immer daran erinnert, dass ein Gast immer essen oder trinken können müsse, auch wenn es gerade nicht die rechte Zeit dafür ist.“
Modenschau am Baikalsee
Aber das Klischee der mütterlichen russischen Frau missfällt Mascha. Eine perfekte russische Frau zu sein bedeute „wie eine Sklavin zu leben“. Eine „russische Frau“ müsse viele Aufgaben erfüllen: Sie kocht, arbeitet, bekommt Kinder und erzieht sie, macht die Hausarbeit, weiß „wie man Kartoffeln anbaut um ein bisschen zu sparen“, und bleibt dabei immer attraktiv und verlockend. Mascha wirkt kokett und feminin, aber nicht aufreizend, wie so viele ihre Landsgenossinnen. Die lassen oft keine Gelegenheit aus, um sich stark geschminkt am Flussufer in ihren Miniröcken und tiefem Dekolletee zu präsentieren. In Irkutsk wirkt jeder Spaziergang wie eine Art Modenschau aus einem sowjetischen Geschichtsbuch. Um nicht aus dem Rahmen zu fallen, hat Mascha eine Lösung gefunden: „Ich werde einfach einen Franzosen anstatt eines Russen heiraten! So muss ich nicht eine russische Frau werden, sondern kann einfach nur eine Frau sein.“
Translated from Une Russie entre datchas et botchka