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Serbien: Keine Zukunft ohne Vergangenheitsbewältigung

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Mit der Veröffentlichung von Videoaufnahmen Anfang Juni, auf denen die Misshandlung und Erschießung von muslimischen Zivilisten zu sehen ist, wurde Serbien von seiner Vergangenheit eingeholt. Ist das Land reif, seine Verantwortung zu akzeptieren?

Serbien, 1 . Juni 2005: Zu Beginn der Hauptnachrichten warnt der Moderator die Zuschauer mit betroffener Miene: „Kinder und besonders empfindsame Personen sollten den folgenden Beitrag besser nicht anschauen.“ In der Tat zeugen die Bilder, die dann folgen, von Szenen unfassbarer Grausamkeit: Sechs bereits offensichtlich misshandelte bosnische Muslime werden von einem Lastwagen gezerrt und der Reihe nach erschossen. Die letzten beiden müssen noch die Leichen aufeinander stapeln, dann werden auch sie niedergestreckt. Die Täter, Kämpfer der serbischen paramilitärischen Einheit „Skorpioni“ (Skorpione), unter dem Oberbefehl des bis heute untergetauchten Generals Ratko Mladic, verhöhnen dabei ihre Opfer und scheuen sich auch nicht, ihr Gesicht offen in die Kamera zu zeigen. Einige können bereits kurz nach der Ausstrahlung identifiziert und festgenommen werden. Es handelt sich um Serben aus dem so genannten „Kernserbien“ und nicht etwa nur – wie von serbischer Seite gerne behauptet wird – um bosnische Serben aus den Bürgerkriegsgebieten.

Was damals geschah

Der 11. Juli 1995 gilt offiziell als der Tag des Massakers von Srebrenica, während dessen fast 8000 muslimische Jungen und Männer von serbischen Einheiten getötet wurden. Der Ort war bereits 1993 zur UN-Schutzzone erklärt worden, um die moslemische Gemeinde von bosnisch-serbischen Aggressionen zu schützen. Doch im Sommer 1995 versagte die internationale Gemeinschaft beim Schutz der mit Flüchtlingen überfüllten Kleinstadt. Die serbische Offensive endete im größten Genozid in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bis heute werden immer neue Massengräber in der Gegend um Srebrenica entdeckt, die letzte Beisetzung identifizierter Opfer fand am 11. Juli 2005, dem zehnjährigen Jahrestag des Massakers statt.

Durch die Veröffentlichung der Videoaufnahmen durch die serbische Menschenrechtlerin Natascha Kandic ist es nun immerhin gelungen, eine Diskussion um die serbische Beteiligung an Kriegsverbrechen zu entfachen. Diese Diskussion mag allerdings auf ausländische Beobachter nicht selten befremdlich wirken und oftmals sogar schockieren. So sind beispielsweise die derzeit überall im Land angebrachten Gedenkplakate mit der Aufschrift „Srebrenica 1995 – 2005: damit du siehst, weißt und dich erinnerst“ häufig mit nationalistischen Parolen wie „wir machen es noch einmal so“ oder „Ratko Mladic – ein Volksheld“ beschmiert. In der Tat scheint in der serbischen Gesellschaft nur wenig Verständnis für das Gedenken an durch serbische Hand ums Leben gekommene bosnische Muslime zu bestehen. In persönlichen Gesprächen hört man am häufigsten den Einwand, es habe sich in Srebrenica „lediglich“ um die Rache für vorher an den Serben begangenes Unrecht gehandelt; eine Tatsache, die „der Westen“ absichtlich verschweigen würde, um Serbien zu diskreditieren.

Auch die aufgebrachte Debatte um die Ankündigung der Veranstalter des international bekannten Musikfestivals „Exit“, eine Schweigeminute für die Opfer von Srebrenica abzuhalten, scheint aus der Außenperspektive nur schwer nachvollziehbar. Da ist von einer Ungleichbehandlung der Opfer die Rede, die muslimischen Opfer würden über die serbischen gestellt. Der Widerstand gegen eine Gedenkminute war schließlich so stark, dass die Veranstalter davon Abstand nahmen.

Wann und wo wurde gefilmt?

Tatsächlich gibt es auch hier, wie immer, wenn es um den Krieg in Jugoslawien geht, zahlreiche Unklarheiten. So fehlt beispielsweise ausgerechnet bei den Erschießungsszenen die Datumseinblendung der Kamera. Auch ist wohl noch nicht hinreichend geklärt, wo genau die Aufnahmen gemacht wurden. Das alles sind wichtige Fragen, deren Beantwortung zehn Jahre später zwar schwierig, aber notwenig ist. Unbestreitbar bleibt allerdings der Inhalt der grausamen Szenen, und genau hier muss eine offensive und mutige Auseinandersetzung Serbiens mit der eigenen Verantwortung einsetzen. Für Serbien geht es dabei nicht nur um die Bewältigung der eigenen Geschichte, sondern um die Gestaltung seiner Zukunft, denn eine Annäherung an die EU und die eigenen Nachbarn kann nur über diesen schmerzhaften Prozess der Vergangenheitsbewältigung erfolgen. Die westliche Staatengemeinschaft sollte Serbien dabei weniger mit erhobenem Zeigefinger begegnen, sondern vielmehr im Bewusstsein des eigenen Unvermögens im Jugoslawien-Krieg behutsam und vor allem neutral die Aussöhnung zwischen den jugoslawischen Nachfolgerstaaten voranbringen.