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Selçuk Altun: "Der Türkei fehlt eine richtige Lesekultur"

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Default profile picture Julia Eichhorst

Kultur

Warum nicht einen Abstecher in die europäische Kulturhauptstadt 2010 machen? Many and Many a Year Ago, das neueste Buch des türkischen Schriftstellers, Kolumnisten und Chelsea-Fans Selçuk Altun, wird diesen Monat auf Englisch veröffentlicht und bietet eine gute Möglichkeit, sich auf einen Besuch in Istanbul vorzubereiten.

An einem heißen Sommertag treffe ich den türkischen Romanautor Selçuk Altun im Londoner Frontline Club, einem beliebten Treffpunkt für Journalisten. Altun ist in London, um Werbung für sein zweites ins Englische übersetztes Buch zu machen. Many and Many a Year Ago ist ein aufregender und mysteriöser Abenteuerroman, der den Leser durch das Istanbul des Osmanischen Reiches führt. Wie auch sein Kriminalroman Songs My Mother Never Taught Me (2008) behandelt Altuns neuer Roman so grundlegende Themen wie den Konflikt zwischen Säkularismus und Religion in der gegenwärtigen türkischen Gesellschaft.

(Image: ©Telegraph Books)Wann immer es ihm möglich ist, besucht Altun bei seinen regelmäßigen Stippvisiten in London auch Fußballspiele. „Ich bin schon seit 1974 ein leidenschaftlicher Anhänger des FC Chelsea“, sagt er stolz. Wie viele andere erfolgreiche Autoren ist Altun ein ruhiger Mann, der trotz seiner Erfolge in der Geschäfts- und Literaturwelt bescheiden geblieben ist. Altun ist ehemaliger Vizevorsitzender von Yapi Kredi, einer der größten Banken der Türkei. Erst 2004, als er gegen Ende seiner Bankkarriere zum Geschäftsführer von Yapi Kredi Publications, einem der größten Verlage der Türkei, ernannt wurde, fing er ernsthaft mit dem Schreiben an. Seitdem veröffentlicht er auch regelmäßig Kultur- und Medienkolumnen in liberalen türkischen Zeitungen wie der Cumhuriyet.

Die Leiden des türkischen Schriftstellerdaseins

„Es war die Liebe meiner Mutter zu Büchern, die mich inspiriert hat“, sagt Altun, der Absolvent der Bosporus-Universität in Istanbul ist. Zu seinen Lieblingsautoren gehören zwei moderne Schriftsteller: der Österreicher Thomas Bernhard und der zeitgenössische türkische Dichter Oktay Rifat. Altun hat drei weitere Bücher geschrieben, die auf Türkisch erschienen sind. „Aber das Los eines erfolgreichen Autors in der Türkei ist nicht immer ein leichtes“, warnt der verheiratete Vater einer Tochter. Schriftsteller ständen laut Altun vor vielen Herausforderungen, deren schwierigste der Umgang mit Drohungen von sowohl religiösen als auch säkularen Kräften sei. „Mein dritter Roman Taste of the Bullet (2003) wurde in der Türkei von einem wichtigen Medienkonzern auf die schwarze Liste gesetzt, weil in ihm der Kauf staatlicher Medienfirmen durch die Privatwirtschaft kritisiert wird“, erzählt er.

"In der Türkei gibt es keine Lesekultur wie etwa im Rest von Europa"

Außerdem fehle der Türkei die Lesekultur, die sich in Europa über die letzten Jahrhunderte entwickelt habe. Sowohl zu Hause als auch im Ausland haben die Türken keine Lust zu lesen und das betreffe nicht nur Bücher, sondern auch Zeitschriften, Zeitungen oder das Internet. Das Fehlen einer Lesekultur, sagt Altun, sei auf ein historisch niedriges Bildungsniveau, den schlechten Lebensstandard, religiöse Einstellungen und die Tatsache, dass fast die Hälfte der türkischen Bevölkerung unter 25 ist, zurückzuführen. „Mein erster Roman verkaufte sich 15.000 Mal und wurde daraufhin kritisch gewürdigt“, erklärt Altun. Aber die offiziellen Verkaufszahlen seiner späteren Bücher seien weniger gut. „Das liegt teilweise auch daran, dass meine Romane sehr häufig Opfer von Raubkopierern werden.“ Allein im Jahr 2006 hat die türkische Polizei 142.000 Raubkopien seiner Bücher beschlagnahmt. Erst vor Kurzem hat Ankara ein neues Kopierschutzsystem eingeführt, nach dem jetzt jedes offiziell veröffentlichte Buch eine Sicherheitsmarke der Regierung tragen muss.

Ist Europa ein Lichtblick für türkische Literaten?

(Image: ©Nathan Newman)Schriftsteller aus den Mitgliedsstaaten der EU hingegen müssen weder schwarze Listen noch Raubkopien fürchten. Was erhofft sich Altun also von dem türkischen EU-Beitritt? „Ich bezweifle, dass die Türkei noch zu meinen Lebzeiten in die EU aufgenommen wird“, meint Altun. „Das gegenwärtige Klima ist nicht besonders positiv. Die Türkei ist angesichts der europäischen Reaktion auf den wirtschaftlichen Abschwung etwas verwirrt. In der Türkei ist es normal, sich entweder in einer Krise zu befinden oder sich gerade von einer Krise zu erholen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte die Türkei eine dreistellige Inflationsrate! Außerdem sind in Europa einige Staatschefs, wie z.B. der französische Präsident Nicolas Sarkozy, nicht glücklich über die Vorstellung eines türkischen EU-Beitritts. Für viele EU-Politiker ist die Türkei einfach kein europäisches Land und da hilft es erst recht nicht, dass wir vorwiegend muslimisch sind und eine muslimische Regierung haben. Die Türkei erlebt gerade einen Kampf zwischen Säkularen und Religiösen. Es gibt viele, die sich beschweren, dass die moderne Türkei nicht östlich genug ist, während andere sich über das genaue Gegenteil aufregen.“

Dieser Kampf zwischen verschiedenen Interessengruppen finde sowohl in der Türkei als auch im Ausland statt. Als Beispiel könne man die Weigerung Ankaras nennen, Kunstwerke des byzantinischen Altertums zu einer Ausstellung der Royal Academy nach London zu schicken. Außerdem sandte die Türkei 2008 nicht einen beliebten säkularen Schriftsteller zur Frankfurter Buchmesse, deren Schwerpunkt die türkische Literatur war. „Die gegenwärtige Regierung in Ankara scheint wenig Interesse an der modernen Kultur oder am byzantinischen Erbe der Türkei zu haben. Dabei hat das Osmanische Reich, angefangen bei der Einführung von Essensgabeln bis hin zu eben dem Wissen, das die europäische Renaissance angestoßen hat, so viel zur Entwicklung der modernen Welt beigetragen!“

Selçuk Altuns nächstes Buch, Sultan of Byzantium, ist dem Kaiser von Byzanz und seinen Nachfahren gewidmet. Es wird europaweit auf Englisch erhältlich sein.

Translated from Selçuk Altun: 'Being in a crisis or recovering from one is part of normal life in Turkey'