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Seine-Saint-Denis: Ein anderer Blick auf die Pariser Vorstadt

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KulturPolitik

Was geschieht eigentlich auf der anderen Seite des Périphérique, der ringförmigen Stadtautobahn, die das Zentrum der französischen Hauptstadt von ihren Vorstädten trennt? Viele Pariser begeben sich höchstens anlässlich der Fußballspiele im Stade de France in die Vorstadt Seine-Saint-Denis, während die Journalisten sich auf Berichte über die grassierende städtische Gewalt beschränken. Überquert man einmal selbst den 'périph', so wird man zwar sehr wohl der Probleme dieses Stadtbezirks gewahr, aber man entdeckt auch den Reichtum einer für Frankreich einmaligen multikulturellen Vielfalt. Der in Prag wohnende, taiwanesische Fotograf Simon Chang begab sich auf eine journalistische Reise in die Pariser Vorstadt.

Linie 13: Auf dem Weg nach Saint-Denis

Im Vorfeld der französischen Regionalwahlen schlug Bruno Beschizza, Kandidat der konservativen Partei UMP von Staatspräsident Nicolas Sarkozy in Seine-Saint-Denis, vor, in der Pariser Metro eine gewisse Anzahl an Wagen für Frauen zu reservieren. Die Sicherheit im öffentlichen Nahverkehr ist eines der Hauptwahlkampfthemen der Rechten. Aus der Nähe betrachtet scheint es aber, als ob sich bei weitem nicht alle Fahrgäste von diesem alarmierenden Befund verunsichern lassen.

Foto: ©Simon Chang

Aubervilliers: Die Begeisterung junger Frauen fürs Boxen

Der Club „Boxing Beats“ in der Rue Lécuyer in Aubervilliers. In einer kleinen Gasse direkt an den Gleisen der RER-Vorstadtzüge wurden die bekanntesten und erfolgreichsten Amateurboxerinnen Frankreichs ausgebildet, unter den Augen des anspruchsvollen Trainers Saïd Bennajem. Dass junge Männer und Frauen im selben Ring boxen, stört hier im „Boxing Beats“ niemanden.

Foto: ©Simon Chang

Boxen: Eine Flucht aus der tristen Realität für Mädchen und Jungen

Die jungen Boxerinnen sind aufmerksam und motiviert, wohl wissend, dass auch die Boxweltmeisterin Sarah Ourahmoune ihre ersten Gehversuche im Ring hier im Boxing Beats absolviert hat. Das ungefähr 70.000 Einwohner zählende Aubervilliers in Seine-Saint-Denis, dem 93. Département im Norden von Paris, wird oft von den französischen Medien gebrandmarkt. Zu den Regionalwahlen 2010 blieben hier 63,1% der Wahlberechtigten den Urnen fern. Dennoch arbeiten und trainieren auch hier die Talente von morgen. Entgegen aller gängigen Vorurteile, ist es in diesem Viertel mit hoher Einwandererquote keineswegs ein Nachteil, eine Frau zu sein, wenn man sich im Boxring, der sportlichen Männerdomäne schlechthin, behaupten will.

Foto: ©Simon Chang

Jugendliche in Aubervilliers: Boxen gegen die hartnäckigen Alltagssorgen

In seinem am 3. März erschienenen Buch La Loi du ghetto ('Das Gesetz des Ghettos') berichtet der Journalist der linksliberalen Zeitung Le Monde, Luc Bronner, von der Gewalt in einem Collège von Aubervilliers. Mitten in einem Lehrerstreik (April 2008), der eben diese Zustände anprangerte, bat hier ein Lehrer seine Schüler, dem hohen Kontrollbeamten für das französische Schulwesen von der Unsicherheit an ihrem Collège zu berichten, das in einer so genannten ZEP (Zone d'Education Prioritaire), einer vom französischen Staat geschaffenen „prioritären Bildungszone“, gelegen ist: „Wenn das so weitergeht, werden die Schüler hier bald überhaupt keine Zukunft mehr haben“, hatte Geraldine, Schülerin in der Abschlussklasse des Collège, damals zu Protokoll gegeben. Ist es diese Unsicherheit, an die die junge Boxerin denkt, wenn sie in ihrer Ecke des Rings steht und versucht, während des Kampfes ihre Nerven unter Kontrolle zu bekommen?

Foto: ©Simon Chang

Das 93. Département: Heimat vielseitiger Künstler

„Begründet auf Musik, Tattoos, Lowridern, Graffiti, Großgangstertum und Proletariat.“ So stellt sich die in Montreuil (Seine-Saint-Denis) angesiedelte Künstlervereinigung Narvalow vor, die Graffitisprayer, Grafiker, Rapper und Komponisten umfasst. Hier Swift Guad, Mitglied des Collectif Narvalow, das bei der im Rahmen des Festivals Banlieusard et alors? ('Banlieue-Bewohner na und?') organisierten Ausstellung Le sens de l'art ('Der Sinn der Kunst') in Aubervilliers vertreten ist. Die urbane und bunt gemischte Hip-Hop-Kultur entstand aus genau diesem überschäumenden Ideenreichtum der Jugendlichen des 93. Départements.

Foto: ©Simon Chang

Rap, Graffiti, Tätowierungen: Aspekte einer vielschichtigen urbanen Kultur

Swift ist ein Alleskönner: Rapper, Sprayer und nicht zuletzt ein großen Fan von Tätowierungen. Hier in Vincennes ein Kunde des Tätowierungsgeschäfts body staff.

Foto: ©Simon Chang

Saint-Denis: Leben im Hôtel social...das ganze Jahr über

Nur wenige Schritte vom Stade de France entfernt - in das die Pariser jedes Wochenende anlässlich der nationalen Sport-Events in Massen strömen, um dann alsbald wieder in ihre Innenstadt zu verschwinden - lebt Ben Ali Khedim seit mehreren Jahren in einem Hôtel social, auf 30 m² mit seiner Frau und seinen drei Kindern. Zuvor wurde er aus einer Pariser Wohnung geworfen und findet seitdem keine Möglichkeit mehr dorthin zurückzukehren. Das Hôtel social beherbergt legale und illegale Einwanderer, die vor allem eines eint: Sie entsprechen nicht den Voraussetzungen der Immobilienagenturen, um selbst Wohnungseigentümer zu werden. Der französische Staat steckt Millionen von Euro in diese Hôtels sociaux, mangels echter Sozialwohnungen, die die in Schwierigkeiten geratenen Familien aufnehmen könnten.

Foto: ©Simon Chang

Unzählige Immigranten bleiben ihr Leben lang in den Vorstädten

Ben Ali hat sämtliche Ausweispapiere seiner Vorfahren aufbewahrt: Teilnahme am Ersten Weltkrieg, dann am Zweiten, stets unter französischer Flagge... Dennoch kam er vor zehn Jahren als illegaler Einwanderer aus Algerien und müht sich trotz einer festen Anstellung und zahlreichen Freunden in Frankreich immer noch vergeblich, eine eigene Wohnung zu finden.
Das alles ist Saint-Denis: Das Stade de France und die zukünftige Cité européenne du Cinéma auf der einen Seite, Hôtels sociaux und Rekordarbeitslosigkeit auf der anderen. Die französische Vorstadt ist, genauso wie anderswo, voller Gegensätze und innerer Widersprüche.

Foto: ©Simon Chang

Unzählige Immigranten bleiben ihr Leben lang in den Vorstädten

Einem von der Tageszeitung Le Monde in Auftrag gegebenen Bericht der Nationalen Agentur für Städtebau (Agence Nationale pour la rénovation urbaine) zufolge, hat das städtische Renovierungsprogramm der Regierung sein Versprechen in puncto Vermischung verschiedener sozialer Schichten in den Vorstädten nicht einhalten können. Schuld daran seien vor allem benachbarte Städte, die mit dem sozialen Wohnungsbau nicht hinterherkommen und die Bewohner dieser unmenschlich hohen Türme demnach nicht aufnehmen können.

Foto: ©Simon Chang

Translated from Seine-Saint-Denis : un autre regard sur la banlieue parisienne