Secondhand in Brüssel: Kleiderschrank für Krisenzeiten
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Daniel Askerøi-WaldmannDie Modeindustrie zählt mit Sicherheit zu den Branchen, die am stärksten von der aktuellen Finanzkrise betroffen sind. Cafebabel.com hat in der belgischen Modemetropole Krisentemperatur genommen.
Das Ausmaß der Krise lässt sich leicht an konkreten Beispielen der Modebranche ablesen: Modehäuser, darunter so traditionsreiche Namen wie Escada, Christian Lacroix oder Burani, mussten Konkurs anmelden und renommierte Designer entwarfen Kollektionen für große Modeketten, um sich über Wasser zu halten. Das letzte Beispiel hierfür war Sonia Rykiel und ihre Kollektion für H&M.
Wie reagieren modebewusste Menschen auf diese Umwälzungen? Kann es sogar sein, dass viele fashion victims sich den Ratschlag Jean-Paul Gaultiers zu eigen gemacht haben, der letzten Juli meinte: „Die Krise ist der Moment, in dem nach neuen Methoden, nach neuen Lösungen gesucht und selbst das hinterfragt werden muss, was bisher als selbstverständlich galt.“ Hinzu kommt, dass viele den Gürtel enger schnallen müssen und es nun mal leichter ist auf die neueste Bluse zu verzichten, anstatt auf einen vollen Kühlschrank. Besonders wenn man sich vor Augen hält, dass man hippe Klamotten ganz leicht auch im Secondhandladen oder auf dem Flohmarkt erstehen kann.
Die Secondhand Stecknadel im Heuhaufen
„Nun gut, vielleicht ist diese Bluse so alt wie ich... und wenn schon, wo ist das Problem?“, ruft die selbstbewusste Annette, die ich an einem Sonntagmorgen auf der Place du Jeu de Balle treffe, dem Mekka für all jene, die in der belgischen Hauptstadt coole Klamotten für wenig Geld suchen. Der leichte Nieselregen, bei dessen Anblick die meisten Brüsseler an diesem Sonntagmorgen erst noch einmal die Bettdecke über den Kopf gezogen haben, hat Annette nicht davon abgehalten herzukommen. Sie wühlt in einem Kleiderhaufen, der auf einer Zeltplane auf dem Boden liegt. „Ich versuche so gut es geht, nicht die Kontrolle zu verlieren. Ich weiß, dass irgendwo ein wahres Prunkstück auf mich wartet, ich muss es nur finden.“
Sophie, eine andere Schnäppchenjägerin, die von sich selbst sagt, dass sie ein wahres fashion victim sei, meint hingegen, dass es gar nicht so schwierig ist: „Man muss nur wissen, was man sucht.“ Unter den Schätzen, die sie auf dem Flohmarkt ausgegraben hat, sind ein Kleid von Barbara Hulanicki aus den Siebzigern („Der Händler hatte vielleicht gar keine Ahnung, was er da verkauft hat“) und eine fast neue Lederhandtasche, die „an die Zeit erinnert, als meine Großmutter ein junges Mädchen war.“ Sophies Traum ist es, einen online-Shop aufzuziehen. „So würde ich endlich all die Klamotten los werden, die sich bei mir im Schrank stapeln“, fügt sie lachend hinzu, um gleich darauf wieder ernst zu werden: „Aber wahrscheinlich ist das Projekt doch schwieriger umzusetzen, als ich es mir so vorstelle.“
Die Bluse vom Flohmarkt ist so alt wie ich. Na und?
Einer der Händler bestätigt Sophie indirekt: „Die Konkurrenz ist jetzt schon härter geworden. Viele versuchen nun, Geld zu verdienen, in dem sie ihre Kleiderschränke ausmisten. Deswegen gibt es jetzt viel mehr Gelegenheitsverkäufer als sonst, die nur ein paar Kleidungsstücke anbieten, denen man aber oft auch ansieht, dass sie getragen wurden. Selten macht jemand einen wirklichen Beruf daraus.“ Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch bei den Käufern ab, so gibt es sowohl Gelegenheitskäufer als auch Käufer, die regelmäßig kommen - aus Leidenschaft. Der Besitzer des Secondhandladens im Brüsseler Viertel Molenbeek-Saint-Jean meint, dass letztere qualitativ hochwertige Kleider suchen, für die sie auch bereit seien, etwas mehr zu zahlen. Aber es gebe auch Käufer, für die die Qualität zweitrangig ist und denen es nur auf den Preis ankommt.
„Ich weiß, dass einige die Secondhandkleider dann zuhause noch umarbeiten“, meint er. Als ich mich in dem Laden umschaue, entdecke ich Kunden, die ich hier nie erwartet hätte und andere, die höchstwahrscheinlich aus finanziellen Gründen gezwungen sind, hier einzukaufen. Neben mir eine etwas ältere Frau, im Arm ein Stapel gebrauchter Kleider, die an der Kasse noch über den Preis verhandelt.
Im Laden der karitativen Organisation Les Petits Riens ist der Andrang der Kunden sogar so groß, dass man es nicht schafft, sich den Weg zu einigen Körben oder Kleiderständern zu bahnen. Die Schlange vor der Kasse geht fast quer durch den ganzen Laden und nicht einmal das Plakat, auf dem darauf hingewiesen wird, dass nicht um den Preis gefeilscht werden kann, schreckt die potenziellen Kunden ab. „Ich komme regelmäßig her. Die Preise sind in Ordnung und wenn ein Kleidungsstück meinem Sohn oder meinem Enkel nicht gefällt, ist es nicht weiter schlimm“, erzählt eine fünfzigjährige, gut gepflegte Frau, die sich mit einigen Hemden über dem Arm in Richtung Kasse bewegt und hinzufügt: „Mir ist aufgefallen, dass immer mehr Menschen anfangen, Kleider zu verkaufen. Ich tröste mich dann immer damit, dass ich das im schlimmsten Fall auch noch machen könnte.“
Bei meinem Streifzug durch die Brüsseler Secondhandläden fragte ich mich, ob die Beliebtheit von Secondhand-Klamotten auf die Wirtschaftskrise zurückführen ist? Eine eindeutige Antwort auf die Frage gibt es wohl nicht. Der Besitzer des Ladens in Molenbeek-Saint-Jean meint dazu, dass er einen festen Kundenstamm hat, der regelmäßig und unabhängig von Konjunkturschwankungen kommt. Aber er bestätigt auch, dass in den letzten Monaten viele neue Gesichter aufgetaucht sind.
Sylvie, die ich auf der Place du Jeu de Balle getroffen habe, als sie gerade ein Kleid kaufte, meint, dass es in der letzten Zeit schwierig geworden sei, etwas Gutes zu finden. Annette, die aufgrund der Krise ihre Arbeit verloren hat und die sich nun mit einem schlecht bezahlten Praktikum zufrieden geben muss, gibt zu, dass sie in letzter Zeit weniger Geld auf dem Flohmarkt ausgebe: „Ich sehe auch, dass jetzt viel mehr Leute ihre eigenen Sachen verkaufen. Das wäre dann auch noch eine Lösung.“
Translated from Second hand me!