Scharon – ein zweiter Rabin?
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Der Plan, den Gaza-Streifen zu räumen, bekommt mit Arafats Tod eine neue Dynamik. Doch die radikale Rechte in Israel versucht erbittert, den Rückzug Israels aus biblischem Land zu verhindern.
Nur knapp ein Jahr nach Vorstellung der „Roadmap“, die inmitten ständiger Gewalt den Friedensprozess nicht wiederbeleben konnte, präsentierte die Regierung Scharon im April dieses Jahres einen neuen „Rückzugsplan“: Israel werde sämtliche Siedlungen im Gaza-Streifen auflösen sowie sein Militär abziehen. Damit werde es keinen Grund mehr für die Ansicht geben, Gaza sei „besetztes Land“. Vier kleinere Siedlungen in Westbank sollten außerdem geräumt werden. Der Plan war in Abstimmung mit George W. Bush entstanden, und auch die Vereinten Nationen und die Europäische Union boten der Regierung Scharon ihre Unterstützung bei der Umsetzung des Gaza-Plans an – ohne allerdings die Roadmap aufzugeben.
Juden gegen Juden
Doch der Plan, „biblisches Land“ aufzugeben stößt auf erbitterten Widerstand in Israel. Die religiöse Rechte mobilisiert gegen ihren einstigen Spitzenmann Ariel Scharon. Der Jerusalemer Rabbi Nebenzahl verkündete im Juli, „für jeden, der Teile des Landes Israel an Nicht-Juden übergibt, gilt Din Rodef“ – das ist die religiöse Lizenz, einen Juden zu töten. Noch im selben Monat gab der israelische Innengeheimdienst Shin Bet bekannt, „einige Dutzend gefährlicher Extremisten“ im Lande, unterstützt von 150 bis 200 Juden, wünschten den Tod des Premierministers Ariel Scharon. Unterdessen schmieden Siedlerorganisationen Pläne, um die drohende Räumung zu verhindern, der prominente Siedlerführer Pinchas Wallerstein rief zum Widerstadt gegen den Rückzug auf, auch um den Preis von Massenverhaftungen. Nach dem Aufruf des orthodoxen Rabbis Shapira an israelische Soldaten, sich nicht an der Evakuierung von Juden aus biblischem Land zu beteiligen – selbiges sei „vom Himmel“ verboten - nehmen Befehlsverweigerungen von Soldaten dramatische Ausmaße an. Das Schreckgespenst „Bürgerkrieg“ geistert wieder einmal durch die Medien, steht doch die Seele Israels auf dem Spiel: Religiöses Recht gegen säkulare Ordnung - die Auseinandersetzung rüttelt an den Grundfesten des zionistischen Staates. Ist Israel noch handlungsfähig, wenn es darauf ankommt? Oder ist der Staat, so fragt provokant die linksliberale Haaretz, nur noch eine „Israelische Autonomiebehörde“, unfähig zu Entscheidungen gegen den Willen bewaffneter, religiöser Gruppen im eigenen Land?
Vom Falken zur Taube?
Die erbitterte Feindschaft der Rechten gegen Scharon weckt bei manchen Beobachtern Erinnerungen an einen seiner Vorgänger, dem diese zum Verhängnis wurde: Jitzhak Rabin, der Premierminister, der zu Zugeständnissen an die Palästinenser bereit war und dafür 1995 von einem jüdischen Fundamentalisten erschossen wurde.
Tatsächlich widerspricht der Gaza-Plan allem, für das Scharon sich ein Leben lang einsetzte. Als Soldat, später als Politiker war er stets der „Falke der Falken“. Räumung der Sinai-Halbinsel, Teilung Jerusalems, Autonomiestatus der Palästinensergebiete – Scharon war immer dagegen. Vor allem die Siedlerbewegung lag ihm stets am Herzen: Erst als Minister für „nationale Infrastruktur“, später als Außenminister stritt er für die Besiedlung „jeder Hügelspitze“ in Gaza und Westbank
Ist Scharon, der zur Durchsetzung seiner Pläne eine Koalition mit der Arbeiterpartei von Friedensnobelpreisträger Simon Peres eingegangen ist, nun plötzlich zur „Taube“ gewandelt? Wohl kaum. Nachdem die „Roadmap“ vorerst in einer Sackgasse endete, war unilaterales Vorgehen der letzte Ausweg Scharons, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und seine Regierung zu retten. Und während das „Nahost-Quartett“ das als „ersten Schritt“ lobte, lieferte Scharons Berater Dov Weisglass im Oktober eine ganz andere Deutung: Der Rückzug aus dem Gazastreifen werde den Friedensprozess langfristig „einfrieren“ und die palästinensische Unabhängigkeit hinauszögern, so seine Hoffnung.
Mit dem Tode Arafats aber hat Scharons Plan plötzlich eine neue Dynamik gewonnen. Möglich, dass ein Friedensprozess in Gang kommt, wie ihn niemand geplant hat. Nach der Vorstellung des EU-Außenbeauftragten Javier Solana ist der Rückzug aus Gaza dabei eine Chance, zur Friedensplan der Roadmap zurückzukehren - vorausgesetzt, dass die Machtübergabe mit den Palästinensern geregelt und verhandelt wird. Hier kommt die EU ins Spiel. Solana kündigte an, die EU werde Experten entsenden, um den Aufbau der palästinensischen Sicherheitskräfte in Gaza zu unterstützen. Hier könnten die Europäer wertvolle organisatorische – und finanzielle – Hilfe leisten. Natürlich nur, wenn nichts dazwischen kommt.