Saskia Sassen in Brüssel: Zur Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft
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Saskia Sassen präsentierte in Brüssel ihr neuestes Werk „Ausgrenzungen: Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft“ (englisches Original: „Expulsions: Brutality and Compexity in the Global Economy“). In einer anschließenden Debatte stand sie den Teilnehmern und Panel-Mitgliedern Frage und Antwort.
„Das ist doch verrückt!“ sagt Saskia Sassen und man merkt wie ihre Stimme bricht, sie klingt fast schrill. Wieder wandert sie hin und her, streckt sich entlang der Graphen, läuft stets lebendig zwischen dem Rednerpult und der Leinwand. Sassen redet von den Graphen, auf die sie gerade gezeigt hat. Für die Lesung wurde ein Lehrsaal im IHECS gewählt. Ein Blick auf die Teilnehmer lässt die Uni-Stimmung noch deutlicher erscheinen. Viele junge Teilnehmer sitzen in den Reihen und warten auf Sassens Präsentation. Nicht klausurrelevant, aber es wird zum Denken angeregt.
Saskia Sassen ist eine renommierte Soziologin und aktuell Professorin an der Columbia University in New York. Bekannt ist sie vor allem als Expertin zu Themen wie Globalisierung, internationaler Migration und wachsender Ungleichheit in der Gesellschaft.
Sassens neues Werk
Ihre Präsentation in Brüssel beginnt sie mit einem Überblick wie sich die Wirtschaft und mit ihr die Gesellschaft seit den achtziger Jahren gewandelt hat. Viel ist zu der Finanzkrise geschrieben worden. Worin unterscheidet Sassen sich dabei? Zum einen versucht sie existierende Ansätze zu vereinen. Als nächsten Schritt ergänzt sie diese mit ihren eigenen Ideen. „Sie ergänzt die bisherigen Ansätze mit der nötigen Sprache“, erklärt der Moderator Gie Goris vom Mo Magazine.
Ihrem Werk vorangesetzt ist ein Vorwort von Dirk Geldorf und Stijn Oosterlynck, die Sassen und die behandelte Debatte in einen bestimmten Kontext setzen. Der Leser bekommt hier direkt eine ausführliche Übersicht geboten, bevor er in die von Sassen in vier Kapitel unterteiltes Werk einsteigt. Ihre Lesung strukturiert sie in einer ähnlichen Weise. Dafür erläutert sie verschiedene Fälle und Systemfehler in den Bereichen der Ökonomie, Immobilien, des Finanzsystems und Landwirtschaft.
Kritik an der Finanzwirtschaft
Ihre Kritik richtet sie letztlich vor allem auf die Finanzwirtschaft des 21. Jahrhunderts zu dem diese Beispiele hinführen sollen. Sassen betont, dass sie dabei nicht traditionelles Bankenwesen meint, sondern vielmehr verschwommene und spekulative Strukturen. Je mehr wir verdienen, desto mehr konsumieren wir. Diese Logik ist nun allerdings verkehrt worden, wobei der Massenkonsum geblieben ist. Mit dieser Veränderung haben sich auch viele Bedeutungen, die wir den Dingen geben, verändert. Sie erklärt, dass die Tatsache, dass wir Sachen verändern können, etwas grundsätzlich Positives sei. Jedoch gingen wir zu weit und es ist in etwas Negatives verdreht. Sie gibt Beispiele wie den Klimawandel. Des Weiteren erklärt sie, wie auch Verkehrungen in unserem Verständnis von Räumen entstanden sind und eine neue Ordnung geschaffen wird.
Sie gibt Beispiele zu den Verzweigungen nationaler und internationaler Investments und nennt Abstrusitäten wie, dass Königen aus Katar mehr Immobilien in London besitzen, als das britische Königshaus. Es zeigt, dass wir von einer „unsichtbaren Geschichte“ umgeben sind. Verwunderte Gesichter und Gelächter sind die Antwort des Publikums. Sie ergänzt: „Wie die Amerikaner sagen würden ‚Dinge passieren nun mal‘ (engl.: ‚Stuff happens‘).“ Sie muss selbst über die Absurdität dieses Satzes lachen.
Das Finanzwesen kann allerdings nicht nur in Relation mit Geld gedacht werden, denn es verkauft, was es nicht hat. Es ginge nicht um den tatsächlichen Erwerb, wie beispielsweise einer Immobilie, sondern um die Spekulation an sich.
Diese Ungleichheiten müssten aber vielmehr als Ausgrenzungen verstanden werden. Hier sind aber nicht nur die Bürger betroffen, sondern auch die Regierungen. Alle werden ärmer, außer die Ökonomien an sich, laut Sassen.
Diskussion
Für das Gespräch im Panel präsentieren Isabelle Ferreras (Soziologie-Professorin, UCL) und Florent Marcellesi (Spanien, Die Grünen, Europäisches Parlament) ihre Ansichten zu Sassens Darstellung. Es sei ein Verbrechen gegen die Menschheit, sagt Ferreras. Bedeutungen wanken und die Grenzen sind dabei so verschwommen, dass wir in einem Kollaps unseres Systems angelangt sind. Sassen erklärt: Während beispielsweise Unternehmen Insolvenz anmelden können, wenn sie ihre Schulden nicht bezahlen können, ist dies z.B. Studenten bei ihren Krediten für ihre Bildung verwehrt. Saskia Sassen fordert, dass das Finanzwesen daher aus bestimmten Bereichen mit diesen Strukturen fernbleiben sollte.
Ein Lösungsansatz soll in ihrem Buch jedoch nicht geboten werden. Saskia Sassens Buch macht vielmehr die von ihr beschriebene Brutalität und Komplexität deutlich und zielt darauf ab, das System zu hinterfragen. Wer sie darüber reden hört und sieht, wie sie dieses Thema voller Leidenschaft präsentiert, weiß, dass ihr dies wohl gelingt. Immer wieder schreitet sie zu der Leinwand, auf der sie den Teilnehmern Graphen und Bilder präsentiert. Und wieder reckt und streckt sie sich. Gefolgt ist dies von einem Blick auf ihre Zuhörer, mit imaginierten Fragen: „Seht ihr das nicht aus so? Ist das nicht vollkommen verrückt?“
Auf die Frage, ob sie denkt, dass die neuesten Finanzregulierungen eine Veränderung bedeuten würden, erwidert sie mit einem Seufzen: „Die Finanzwelt ist viel zu kreativ, als dass das eine wirkliche Veränderung bedeuten würde.“