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Saïd André Remli: "Die Gefängniswärter wollten mich mindestens drei Mal 'Selbstmord' begehen lassen"

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Translation by:

Sophie Beese

Gesellschaft

20 Jahre in französischen Gefängnissen, in denen es sich ebenso gegen Mitgefangene wie gegen die Wärter zu wehren galt, schlaflose Nächte, aber auch Solidarität: Davon erzählt Saïd André Remli in seinem Buch "Je ne souhaite cela à personne" (Deutsch in etwa: "So etwas wünsche ich niemandem") ebenso wie von seinen juristischen Erfolgen gegen das überholte französische Gefängnissystem.

Eine Begegnung mit einem Menschen, der schwer einzuschätzen ist und heute als Regisseur für Dokumentarfilme arbeitet und sich für die Wiedereingliederung von Ex-Sträflingen engagiert.

„Arceuil-Cachan, bitte Vorsicht beim Aussteigen.“ Der Pariser Vorstadtzug RER B fährt ab und lässt mich 15 Minuten vom Stadtzentrum entfernt auf dem Bahnsteig szurück. Etwas weiter unten, vor dem imposanten Aquädukt, erkenne ich das runde Gesicht sofort wieder, welches den Buchumschlag von Je ne souhaite cela à personne ziert („Ich wünsche das niemandem“, im Januar 2010 im Verlag Seuil in Frankreich erschienen, auf Deutsch noch nicht erhältlich).

Je ne souhaite cela à personne ist die mitreißende Autobiografie von Saïd André Remli. Wer würde beim Anblick dieses freundlichen Gesichts, das einem 52-jährigen Vater dreier Kinder gehört, auf die Idee kommen, dass es sich um einen Mann handelt, der 20 Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hat? Doch schon sein erster Satz verweist auf Saïd André Remlis Gefängnisvergangenheit. Und so nehmen auch die banalsten Ausreden bei ihm eine andere Dimension an: „Es tut mir leid, dass ich dir nicht eher geantwortet habe, ich dämmerte vor mich hin…ich kann nur tagsüber die Augen zumachen, so ca. 20 Minuten am Stück… das ist so eine Knacki-Angewohnheit.“

Wunsch nach Gerechtigkeit hinter Gittern

Die Gitarre nimmt hier den Platz des Schlagstocks ein; Prügeleien sind spielerische TänzeMan muss dazu sagen, dass Remli nicht immer ein harmloser Engel war. Doch das verheimlicht er auch nicht. Das Elend lernte Saïd André Remli schon sehr früh kennen. Bereits in jungen Jahren wurde er von einem Lyoner Heim ins nächste abgeschoben und die Schule, die er eigentlich gerne mochte, konnte er nicht lange besuchen. Denn mit gerade einmal 15 Jahren fand er sich nach seinem ersten einmonatigen Gefängnisaufenthalt auf der Straße wieder. Auf erste „harmlose“ Diebstähle à la Robin Hood folgten schon bald gefährlichere Überfälle und Kämpfe um Einfluss-Sphären mit Bossen der Unterwelt - bei denen es um sehr viel ging.

Eines Tages, im Jahr 1984, wird der polizeilich gesuchte Remli verhaftet und zu fünf Jahren Knast verurteilt. Die Anklage jedoch ist absurd: Sie lautet „Zuhälterei“. Ein Fluchtversuch aus dem Gefängnis Montluc (Lyon), in das Remli eingewiesen wird, scheitert und ein Aufseher kommt dabei ums Leben. Saïd André Remli kommt wieder hinter Gitter. Diesmal ist es richtig ernst: Er wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Am 1. Juni 2004 kann Remli das Gefängnis zum ersten Mal auf Bewährung verlassen und am 31. Dezember 2009 ist die Haft endgültig abgesessen.

Seine etlichen Aufenthalte in diversen Strafvollzugsanstalten fasst er nun in seinem Buch zusammen, das sich wie ein Heldenepos liest. Die vielen Gefängnisaufenthalte sind der Auslöser für sein Engagement, das er zur Wiedereingliederung von Straftätern an den Tag legt. Noch hinter Gittern prangerte Remli, auf internationales Recht gestützt, die oft erbärmlichen Haftbedingungen in französischen Gefängnissen an und konnte in vielen Bereichen Urteile zu seinen Gunsten herbeiführen.

Wieder auf freiem Fuß setzt Saïd seinen Gerechtigkeitskampf fort, ohne sich seiner Taten reuig zu zeigen. Nachdem er Vizepräsident von Ban Public war, einer renommierten Internetplattform, die sich mit den Haftverhältnissen in europäischen Gefängnissen auseinandersetzt, hat sich Saïd dazu entschlossen, direkt zu handeln. So hat er ein Reinigungsunternehmen gegründet, welches ehemalige Häftlinge aus Arceuil engagiert und ihnen dadurch die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erleichtern soll.

Im Räderwerk der Gefängnisse: Von einer kurzen Freiheitsstrafe zum Selbstmord

In seiner Autobiographie erzählt der Autor, dass die vielen Zwänge in der Freiheit auf Bewährung die Wiedereingliederung zu einem Leidensweg machen können. In der Bar „Coco“ erfahre ich dann Näheres. Die Kneipe sieht genau so aus, wie Saïd sie mir auf dem Weg hierher beschrieben hat: „Ein kleines Café, wo man sich via Radio in den 1970er Jahren wiederfindet.“ Ein diskreter Ort, um über ein dunkles Thema zu sprechen - Saïds Erfahrungen im französischen Knast: „Für all diejenigen, die gerade von zu Hause kommen, ist die Einweisung ins Gefängnis einfach grauenhaft. Doch als ich 1984 in den Knast zurück kam, kannte ich bereits alles; die Wärter, das Leben hinter Gittern. Denn ich habe mit meinen damals 15 Jahren durchgehalten, während es viele gibt, die sich nach zwei, drei Monaten im Gefängnis das Leben nehmen - oft sind es solche, die nur wegen kleinen Delikten hinter Gittern sitzen. Diejenigen, die ihre Strafen eigentlich gar nicht so lange absitzen müssen, fangen oft auch an, innerhalb der Gefängnismauern zum Messer zu greifen, um sich zu verteidigen und werden danach zu viel längeren Haftstrafen verurteilt.“

Saïd folgert aus solch einer eigentlich sinnlosen, gefährlichen Aktion, dass der emotionale Schock für viele Gefängnis-Neulinge oftmals zu brutal sei. "Die Gefangenen können damit nicht umgehen. Die Gewalt 'drinnen' ist mächtig und erreicht dich schnell. Aus allem kann im Knast eine Waffe werden, sogar aus einem Stück Zucker… Um mit diesen Leuten da fertig zu werden, braucht man noch brutalere Gefängniswärter, was auf eine gewisse Weise auch 'gerechtfertigt' ist.“ Gewalt, die schon fast an Grausamkeit grenzt. Die Isolationshaft, welche durch internationales Recht eigentlich verboten wird, ist ein trauriges Beispiel dafür: „In der Isolationshaft wechseln sich die Wärter ab, um dich vom Schlafen abzuhalten. Normalerweise kann ein Gefangener dort maximal 45 Tage hintereinander bleiben. Ich kenne einen, der hat dort 5 Jahre eingesessen. Eines Tages holten sie ihn aus seinem Verlies, haben ihn aber sofort wieder zurückgesteckt.“

Es gibt also Grund, die französische Gefängnispolitik mit Bitterkeit zu betrachten: „Viele Leute verstehen die französische Politik nicht, sowohl in Bezug auf die Gefängnisse als auch in puncto Rechtsprechung“, sagt mir Saïd, als ich ihm beichte, dass meine Mutter Richterin ist. „Nicht umsonst belegt Frankreich von allen Mitgliedern des Europarates in Sachen Menschenrechte den vorletzten Platz (siehe auch: Bericht von M. Alvaros Gil-Robles über das französische Strafrechtssystem aus dem Jahr 2006) und schneidet in Bezug auf die Selbstmordraten in Gefängnissen im europäischen Vergleich mit einem letzten Platz äußerst schlecht ab. Und die Leute bringen sich ja auch nicht um, weil sie sich wohlfühlen!“

Die Lage spitzt sich zu…

« Ein abscheulicher Ort », sagte er, als er eine Strafanstalt in Marseille beschreiben musste.

Die Theke des Cafés füllt sich und auch die berühmt berüchtigte „Coco“ ist gerade angekommen. Sie gibt mir freundlich die Hand und Saïd und ich bestellen noch ein Bier, während er mit seinen Erzählungen fortfährt. Man kann die Stimme des Erzählers und der Hauptperson des Buches Je ne souhaite cela à personne dabei klar heraushören: „Während meiner letzten acht Jahre im Gefängnis hat sich die Situation in den Gefängnissen zugespitzt. Heutzutage haben ca. 80% der Gefangenen nichts zu tun, einige brauchen psychologische Betreuung, andere haben keine Papiere… sie werden eingesperrt, um der öffentlichen Sicherheitsdiskussion Genüge zu tun. Kurz nach meiner Entlassung 2004 hat ein für Kannibalismus verurteilter Gefangener in Saint Maur, den ich kannte, das Gehirn seines Mitinsassen gegessen.“ Ein grauenhaftes Ereignis, welches auch die blutrünstigsten Horrorfilme wohl nicht zeigen würden. „Das Gefängnis kann nicht mehr für die Sicherheit derer garantieren, die dort leben, seien es die Insassen oder das Aufsichtspersonal“, schlussfolgert Saïd André Remli.

Die Bestrafung funktioniert dementsprechend nicht, wenn man sie von innerhalb der Gefängnismauern betrachtet. Und das mit gutem Grund: „Wenn ich von Selbstmorden spreche, so sind manche Fälle in Wirklichkeit Morde… und das ganze Rechtssystem deckt diese Fälle. Ich fühle mich dazu verpflichtet, darüber zu sprechen: Die Gefängniswärter wollten auch mich mindestens drei Mal 'Selbstmord' begehen lassen. Diese ganzen Pilotprojekte, von denen es angeblich immer mehr in Frankreich geben soll - ich glaub‘ da nicht dran! Aber ja, in diesen Gefängnissen, die man der Öffentlichkeit zeigt, geht immer alles mit rechten Dingen zu.“

Offene Gefängnisse oder elektronische Sonde - eine Lösung?

Trotz allem bleibt Saïd realistisch: „Ohne Gefängnisse geht es nicht. Man braucht irgendeine Bremse“, was den Ex-Häftling aber nicht daran hindert, über alternative Formen der Haft nachzudenken: „Das ideale Gefängnis, wenn es nach mir ginge, wäre ein Gebäude mit 40 bis 50 Häftlingen, wo es mehr soziale Betreuer gäbe als Wärter.“ Und das Gefängnis „bei sich zu Hause“ ? Für Saïd eine unwahrscheinliche Lösung. „Als ich auf Bewährung entlassen wurde, hat man gerade begonnen über elektronische Armbänder zu sprechen. Ich denke, auch wenn ich ein Gefangener bin, bin ich doch kein Tier. Und viele denken so.“ Saïds Pläne für ein ideales Gefängnis scheinen in die gleiche Richtung zu gehen, wie die aktuellen Erklärungen des französischen Staatssekretärs im JustizministeriumJean-Marie Bockel, der bis zum Jahr 2020 10% „offene Gefängnisse“ initiieren möchte. Diese gesellschaftliche Entscheidung ist in den skandinavischen Ländern schon lange Realität, ebenso wie in der Schweiz und in anderen europäischen Ländern. Bleibt also abzuwarten, ob es sich in Bezug auf Frankreich nur um das x-te Ablenkungsmanöver oder tatsächlich um eine revolutionäre Initiative handelt.

Je ne souhaite cela à Personne, Saïd André Remli, Januar 2010, 1. Auflage; Seuil-Verlag

Fotos: Saïd André Remli: ©Hélène Bienvenu; Jailhouse Rock: ©DianthusMoon/flickr; Zelle ©4PIZON/flickr

Translated from Saïd André Remli : « Les matons ont essayé de "me suicider" au moins trois fois »