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Regeln für die regellose Welt

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Der Karneval ist ein Fest der Kirche: Im Mittelalter wollte diese den Gläubigen die Schrecknisse des Teufelsstaates vor Augen führen. Doch obwohl die Kirche an Einfluss verloren hat, ist der Karneval in Europa beliebter denn je.

Rottenburg am Neckar ist ein idyllisches Städtchen in Deutschlands Süden. Im Herzen der Altstadt schmiegen sich Bürgerhäuser aneinander. Einzig ein mächtiger Dom überragt sie, der Ruhe und Ordnung zu versprechen scheint. Doch am 26. Februar wird in Rottenburg der Teufel los sein: Dann ziehen die "Ahlande" durch die Straßen der Stadt, grinsende, gehörnte Dämonen, deren Haupt mit zotteligem Lammfell bedeckt ist. An ihrem Körper hängen Stahlglocken, und wenn die Ahlande damit auf- und abspringen, erzeugen sie einen höllischen Lärm.

Die Zügellosigkeit wird zum Programm

So wie im kleinen Rottenburg herrscht in unzähligen Städten Europas an den sechs Tagen vor Aschermittwoch der Ausnahmezustand. Ob im spanischen Cadiz, in Nizza, Köln, Venedig oder Prag: Überall werden Umzüge veranstaltet, auf denen groteske Masken zu sehen sind und die Mächtigen verhöhnt werden. Überall verkleiden sich die Menschen, feiern Tage und Nächte hindurch. Die Regeln der Gesellschaft scheinen außer Kraft gesetzt, die Zügellosigkeit wird zum Programm.

Doch diese Regellosigkeit folgt einem klaren Gesetz. Es ist das Gesetz der Kirche. Zwar sind vorchristliche Feste bekannt, die dem Karneval ähneln, etwa die römischen Saturnalien. Doch karnevalistische Bräuche tauchen in Europa erst im Mittelalter auf, als die Kirche ihre Macht auf dem Kontinent bereits konsolidiert hatte, eine direkte Verbindung zu heidnischen Ritualen lässt sich nicht nachweisen. Karneval ist das Fest, das der am Aschermittwoch beginnenden Fastenzeit vorausgeht: "Carnem levare" bedeutet die Aufhebung, die Wegnahme des Fleisches. Einzig in ihrem Beginn unterscheiden sich die europäischen Karnevale. In Köln fängt man am 11.11. um 11 Uhr 11 an zu feiern, in anderen Städten am 6. Januar. Auch dies findet seinen Grund in der Kirchengeschichte. Am 11.11. begann die vorweihnachtliche Fastenzeit, die am 6. Januar, an Epiphanie, endete.

Der Narr als Bürger des Teufelsstaates

Überall gelangt das Fest an den 6 Tagen vor Aschermittwoch zu seinem Höhepunkt, in diesem Jahr vom 23. bis zum 28. Februar. Denn nach der Bibel schuf Gott die Welt in 6 Tagen, deshalb hat auch die Gegenwelt 6 Tage bestand. Der Münchner Volkskundler Dietz-Rüdiger Moser hat die Verbindungen zwischen dem Karneval und der christlichen Theologie erforscht. "Man wollte, dass die Leute Aschermittwoch feiern, deshalb brauchte man den Karneval", sagt er. Nach Mosers Theorie geht der Karneval auf die Zwei-Reiche-Lehre des Kirchenvaters Augustinus zurück, der zwischen einem Staat Gottes und einem Staat des Teufels, der "civitas Dei" und der "civitas Diaboli" unterschieden hatte.

Im Karneval führte die Kirche ihren Gläubigen den Teufelsstaat vor, um ihnen so die Notwendigkeit eines christlichen Lebens in der Fastenzeit begreiflich zu machen. So steht der nach dem Zufallsprinzip gewählte Karnevalskönig, wie man ihn aus Nizza, Köln (Karnevalsprinz) oder Viareggio kennt, im Gegensatz zum von Gott gewählten König. Auch der Narr ist nicht umsonst Bürger des Gottesstaates: Der 52. Psalm der lateinischen Vulgata-Bibel erklärt den Narr zum Gottesleugner; dass der Narrenstab mit dem Kopf seines Trägers gekrönt ist, steht für dessen unchristliche Selbstverliebtheit.

Der Karneval wurde überall dort gefeiert, wo die Macht der Kirche hindrang. Noch heute findet er, mit Ausnahme der Basler Fasnacht, ausschließlich in katholisch geprägten Ländern statt. Die ersten Zeugnisse stammen aus dem 13. Jahrhundert, aus Lille und Dijon. Besonders bekannt ist im 15. Jahrhundert der Nürnberger Schembartlauf. Doch dann kommt die Reformation, die die Fastenzeit abschafft. Aufklärung und Französische Revolution versetzen in ihren Einflussgebieten dem Karneval dann den Todesstoß, sie wollen dem katholischen Spuk ein Ende machen. Doch mit der Restauration zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlebt der Karneval eine Renaissance. Die Karnevale in Köln, Nizza und zahlreichen anderen Städten werden in dieser Zeit neu belebt und dauern bis in unsere Zeit fort.

Verdrängtes kommt nach oben

Die Kirche hat heute ihre kulturelle Vormachtstellung eingebüßt. Doch der Karneval ist beliebter denn je, neue Formen entstehen, die mit kirchlicher Tradition nichts mehr zu tun haben. Multikulturelle Sommerkarnevale wie der im Londoner Stadtteil Notting Hill sprießen in Europa wie Pilze aus dem Boden, der konventionelle Winterkarneval droht dagegen, wie in Venedig, zur Touristenattraktion zu verkommen. Verliert das Fest so seinen ursprünglichen Sinn und Wert?

Nein, glaubt Michi Knecht, die am Insitut für Europäische Ethnologie in Berlin forscht. "Der Karneval ist nicht mehr das, was er früher einmal war. Das heißt aber nicht, dass er keinen Sinn machen würde." Sie ist davon überzeugt, dass der Karneval den Zusammenhalt von Gruppen organisiert. In der "verkehrten Welt" herrschen klare Regeln. "Das Spektakel bietet den Menschen eine Gemeinschaft", betont Knecht. Davon ist auch der Psychotherapeut Wolfgang Oelsner überzeugt. In seinem Buch "Fest der Sehnsüchte" (1) schreibt er: "Im Karneval wird der Mensch bedingungslos angenommen, wie er ist." Der angenehme psychologische Nebeneffekt: Man dürfe Dinge tun, die sonst nicht erlaubt seien, verdrängte Gefühle kämen nach oben, so Oelsner.

(1) Wolfgang Oelsner: Das Fest der Sehnsüchte.

Warum Menschen Karneval brauchen. Psychologie, Kultur und Unkultur des Narrenfestes. Marzellen, 2004