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Raphael Fellmer: Der Lebensmittel-Retter von Berlin

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Translation by:

Julia Korbik

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Er hat fünf Jahre ohne Geld gelebt und der Verschwendung den Kampf angesagt: Raphael Fellmer will das Konsumverhalten der Menschen nachhaltig verändern. Kein Wunder also, dass er in Berlin den ersten Supermarkt eröffnet hat, in dem ausschließlich aus dem Mülleimer gerettete Lebensmittel verkauft werden.

Das Treffen findet direkt im Laden statt. Genauer gesagt in der Nummer 59, Wilmersdorfer Straße. Es ist nicht schwer, den Ort zu finden. Das Gebäude wird renoviert, ein Teil des Gerüsts ist von einem mit einem großen Zeichen verzierten weißen Transparent bedeckt. Wir sind zu früh dran und das Berliner Schmuddelwetter macht das Warten draußen ziemlich ungemütlich. Einmal im Warmen fällt unser Blick sofort auf das Obst und Gemüse zu unserer Rechten, welches einen sehr „normalen“ Eindruck macht.

In den Regalen reihen sich Popcorn, Bio-Kompott, alle möglichen Sorten Chips und glutenfreie Kekse. Der Laden ist klein, kleiner als wir ihn uns vorgestellt hatten. Nur zwei Gänge beherbergen die Produkte, die von Raphael Fellmer und seinem Team gerettet wurden. Denn SirPlus ist kein Supermarkt wie jeder andere, auch wenn er von außen aussieht wie einer dieser kieztypischen kleinen Lebensmittelläden: Er ist ganz dem Verkauf von Lebensmitteln gewidmet, die vor der Verschwendung „gerettet“ wurden. „Das ist nur der Anfang“, verkündet Raphael Fellmer, als er sich nähert. Er ist dabei, seine dicke Winterjacke auszuziehen; darunter kommt ein weißes Poloshirt mit SirPlus-Aufdruck zum Vorschein, inklusive Logo, einer herzförmigen Erdbeere.

Foodsharing ist ansteckend

SirPlus hat im September 2017 in Berlin eröffnet, in dieser sehr belebten Fußgängerzone im Herzen des bürgerlichen Berliner Stadtteils Charlottenburg. Eine eher überraschende Anschrift für ein solches Projekt. „Der Eigentümer war begeistert von unserer Idee und hat uns einen guten Preis gemacht, ohne den wir niemals die Miete hätten bezahlen können“, erklärt Fellmer stolz. Gründe für die Ortswahl gibt es genug: Was die Sichtbarkeit und Erreichbarkeit betrifft, ist der Standort perfekt. Aber vor allem steht er für eines der Ziele des Unternehmens: Zu zeigen, dass der Verbrauch von abgelaufenen, aber noch genießbaren Lebensmitteln, die andernfalls weggeworfen würden, nicht allein für Bedürftige gedacht ist. Ist also nach Veganismus und glutenfreier Ernährung das Essen abgelaufener Lebensmitteln der neue Trend?

Raphael Fellmer, 34-jähriger Berliner und Autor von Glücklich ohne Geld!, ist weltweit dafür bekannt, dass er fünf Jahre ohne Geld lebte. Sein damaliges Ziel? Beweisen, dass unser Konsumverhalten nicht mehr lebensfähig ist und auf Lebensmittelverschwendung aufmerksam machen. 2012 gehörte er zu den Mitgründern von Foodsharing, einer Plattform, die es Einzelpersonen und Händlern ermöglicht, online Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen, die umsonst bei ihnen abgeholt werden können. Ihr fahrt in den Urlaub? Statt den Inhalt eures Kühlschranks einfach wegzuschmeißen, gebt ihn per Foodsharing weiter. In den fünf Jahren seit seiner Gründung wurden so dank 35.000 „Foodsavern“ mehr als 12 Millionen Kilogramm Lebensmittel vor dem Mülleimer gerettet. Ein Erfolg, aber ein Nischenerfolg. Deshalb hat Fellmer sich mit dem Ingenieur Martin Schott sowie dem Unternehmer Alexander Piutti zusammengetan und SirPlus gegründet.

Die Zahlen zur Lebensmittelverschwendung kennt Fellmer auswendig. Er wiederholt sie unermüdlich, wie ein Mantra, am Anfang jedes Gesprächs: „In Europa landen 50 Prozent unserer Nahrungsmittel im Mülleimer.“ Und: „Jedes Jahr werden weltweit 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel weggeschmissen.“ Oder: „In Deutschland werden jedes Jahr 20 Millionen Tonnen Nahrungsmittel weggeworfen, das ist ein Lastwagen pro Minute.“ Wird er zu Interviewzwecken unterbrochen, verliert Fellmer trotzdem nicht sein (breites) Lächeln. Sein Enthusiasmus ist ansteckend. Er grüßt warmherzig jede Person, die das Geschäft betritt, während er sich gleichzeitig aufmerksam unsere Fragen anhört. Mit ihm spricht man nicht über Probleme, sondern über Lösungen. Man spricht nicht über Betriebliches, man spricht über Menschliches. Seine Worte sind einfach und effizient. Es fällt schwer, sich durch seine Ausführungen nicht angesprochen zu fühlen. Das weiß er: Beim Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung müssen alle mitmachen. Sein persönlicher Kampf ist im Laufe der Jahre immer mehr zu einem Kreuzzug geworden. 

1,3 Millionen Tonnen Nahrungsmittel, die in der Mülltonne landen: Wie bleibt man da zuversichtlich? „Man öffnet die Augen, man sieht dem Problem ins Gesicht und man nimmt es in Angriff“, antwortet Raphael Fellmer. SirPlus kämpft an allen Fronten: Lieferungen an Privathaushalte, Gründung einer Supermarktkette zuerst in Deutschland, dann in Europa (2022 sollen es 35 Geschäfte sein), Vorbereitung einer digitalen Plattform, die sich an Produzenten richtet… Von Privatkunden über die Landwirte bis zu den Händlern: Bald wird niemand mehr behaupten können, man könne nichts gegen die Lebensmittelverschwendung in Europa tun.

Retterboxen für Europa

Wie sein Name schon verrät (ein Wortspiel aus „surplus“, also Überschuss, und „Sir“, um den Lebensmitteln ihre Wertschätzung zurückzugeben), hat SirPlus zwei Hauptziele: Erstens, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, indem essbare Lebensmittel direkt bei den Supermärkten und Landwirten gerettet werden. Zweitens, Bewusstsein zu schaffen, indem ein neuer Trend gestartet wird - „hässliche“ oder abgelaufene Lebensmittel sollen so hip werden. Bisher läuft das gut und es gibt bereits solche, die sich haben überzeugen lassen. An der „Wall of Fame“ von SirPlus in Berlin finden sich die Logos von BioCompany, Metro oder Real. Fellmer zeigt auf drei große Kisten mit Kartoffeln, die am Eingang des Ladens stehen: „Die kommen direkt von einem Bauern.“

Alle Produkte im Laden werden bis zu 70 Prozent billiger verkauft als im normalen Handel. Außerdem werden 20 Prozent der von SirPlus gesammelten Lebensmittel gratis an Vereine verteilt. Aber ist es überhaupt legal, Nahrungsmittel nach Ablauf ihres Haltbarkeitsdatums zu verkaufen? Raphael Fellmer ist diese Frage gewöhnt: „Natürlich. In den meisten Ländern der Europäischen Union ist das legal“. Warum also werfen die Supermärkte jedes Jahr Tonnen an essbaren Nahrungsmitteln weg? Fellmer zählt an seinen Fingern ab, bevor er zwei Gründe angibt. Erstens, die gesetzliche Verantwortung: Ist das Haltbarkeitsdatum eines Produktes abgelaufen, ist das Geschäft, welches dieses Produkt verkauft, für es verantwortlich. Zweitens, das Image des Geschäfts: Zwar ist es legal, abgelaufene Produkte zu verkaufen, aber das Geschäft muss die Qualität sicherstellen und den Kunden mitteilen, dass es sich um abgelaufene Produkte handelt. Wie läuft das bei SirPlus? Auf der einen Seite werden alle Produkte im Laden vor dem Verkauf systematisch kontrolliert und getestet. Ein gut sichtbares Schild am Eingang des Ladens zeigt die allgemeinen Bedingungen und Konditionen. Andererseits ist die Kommunikation darauf ausgerichtet, die Sichtweise möglichst vieler Leute in Bezug auf Konsum und diese „ungewöhnlichen“ Produkte zu ändern.

Und das funktioniert? Raphael Fellmer versichert: „Ja, sogar ziemlich gut! Wir bekommen jeden Tag superpositive Rückmeldungen, sowohl von den Händlern als auch von Privatkunden. Man sagt uns ‚Endlich, es gibt euch!‘“ Trotzdem, eine Menge Leute davon zu überzeugen, dass sie ihr Verbraucherverhalten ändern sollen, ist sicher nicht einfach. „Mit Metro haben die Verhandlungen beispielsweise zehn Monate gedauert“, sagt Fellmer, „heute holen wir an sechs von sieben Tagen Nahrungsmittel bei zwei Handelsketten in Berlin ab, und die sind sehr glücklich mit dieser Partnerschaft. Sie ermöglicht den Partnern Einsparungen, ist gut für ihr Image, und ihre Angestellten freuen sich.“ 

Bleibt noch, die Verbraucher von diesem Vorgehen zu überzeugen. Schließlich kann man noch längst nicht alles bei SirPlus kaufen. „Das stimmt, aber irgendwann muss man einfach anfangen. Man kann nicht immer darauf warten, dass alles perfekt ist“, so Fellmer. Wie gelingt es, Kunden zu dieser neuen Art des Konsums zu bewegen? „Erstens muss man wissen, dass wir jeden Tag neue Produkte aufnehmen. In einem Jahr gibt es sicher 500 verschiedene. Milchprodukte, Fleisch, Kosmetik- und Haushaltsprodukte - das ist auf dem Weg. Dann haben wir ein System eingerichtet, mit dem wir Boxen an Haushalte in Berlin liefern und bald auch an Haushalte in ganz Deutschland, damit jeder davon profitieren kann.“ Früher oder später sollen diese „Retterboxen“ in einer veganen, vegetarischen oder glutenfreien Variante lieferbar sein, und das in ganz Europa.

Krumme Gurken im Kühlschrank

Mit allen zu reden und jedem die Möglichkeit zu geben, die Dinge zu ändern - das ist das Ziel von SirPlus. Es ist eine andere Art zu sagen, dass wir alle mitverantwortlich sind. „Das Problem ist, dass Obst und Gemüse heute bestimmten Normen entsprechen müssen. Die Gurken müssen beispielsweise gerade sein. Die Konsumenten haben das übernommen. Aber wie sollte man ihnen das auch vorwerfen? Nicht alle können die Zahlen zur Lebensmittelverschwendung zitieren. Die Leute wissen zwar unterbewusst, dass Essen weggeworfen wird,  aber sie wissen nicht genau, in welchem Ausmaß.“

Fellmer erwähnt die Schulen. Wenn man nur den Kindern schon von klein auf zeigen würde, dass die Natur keine perfekt geraden Möhren oder perfekt runden Tomaten hervorbringt. Dass hinter dieser Kiste Äpfel Männer und Frauen stecken, Arbeit, Schweiß. „Wenn ihr zum Bäcker geht und es da euer Lieblingsbaguette nicht gibt, macht euch nicht auf, um es woanders zu suchen. Im Gegenteil, nutzt die Gelegenheit dazu, ein anderes Brot auszusuchen“, ermuntert der Aktivist. Das sei nämlich auch eine der Ursachen der Lebensmittelverschwendung: Die Überproduktion, die als Reaktion auf unser Bedürfnis entsteht, alles jederzeit greifbar zu haben. Fellmer fragt: „Warum muss der Kühlschrank zu Hause immer voll sein? Wäre es nicht gut, sich nicht mehr zu fragen, was man heute Abend gerne essen würde, sondern was man heute Abend essen müsste? Was droht sonst morgen im Mülleimer zu landen? Dieser Rest Reis? Dieser Joghurt?“

Nach zahlreichen Kampagnen, der Eröffnung von Supermärkten, der Lieferung nach Hause und dem Einsammeln von Nahrungsmitteln von großen Handelsketten und Landwirten (was sich B2C nennt, Business to Consumers), nimmt SirPlus nun B2B (Business to Business) in Angriff, sowie das Fundament des gesamten Systems. „Wir sind dabei, eine Plattform zu erstellen, um die verschiedenen Beteiligten zusammenzubringen. Stellt euch vor, dass ein Landwirt 200 Kilo Kartoffeln übrig hat. Er könnte das auf der Plattform melden. Ein Chipshersteller könnte das sehen, die Kartoffeln erhalten, seine Kunden, wenn er will, über diese Aktion informieren, und so dafür sorgen, dass die 200 Kilo nicht in der Tonne landen.“ Zwar wird diese Art der Vermittlung eine Einkommensquelle für SirPlus sein, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aber wird der Service gratis zur Verfügung gestellt.

Finanzielle Starthilfe hat sich SirPlus durch eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne gesichert, außerdem profitiert es von europäischer Unterstützung in Form des Programms ClimateKIC, welches sich auf nachhaltige Lösungen spezialisiert. Trotzdem ist sich Fellmer bewusst, dass SirPlus neue Business Angels und zehntausende Euro zusätzlich bräuchte, um im größeren Umfang handlungsfähig zu sein. Muss man sich also um die Zukunft Gedanken machen? Werden die europäischen Träume doch nicht über die deutsche Hauptstadt oder, im besten Fall, über Deutschland, hinausgehen?

Im Berliner Laden drängen sich die Menschen. Der Besucherstrom reißt seit der Eröffnung vor ein paar Monaten nicht ab, und auch an diesem Montagnachmittag ist SirPlus voll. Bevor wir gehen, werfen wir einen letzten Blick auf Raphael Fellmer und sein extrabreites Lächeln. Seine Mitarbeiter sind dabei, Paletten mit Gemüse zu schleppen. Fellmers Kreuzzug gegen die Lebensmittelverschwendung scheint ohne Hindernisse voranzuschreiten und es kann gut sein, dass man sich auch in Frankreich, Belgien, Italien oder Spanien bald für die „Methode SirPlus“ begeistert. Denn mal ehrlich: Wer kann schon Erdbeeren in Herzform widerstehen?

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