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Raketenalarm in Tel Aviv: "Meine Beine waren wie Wackelpudding"

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GesellschaftPolitik

Als am Donnerstag die Sirenen in Tel Aviv aufheulten, konnten es viele Einwohner kaum glauben. Seit dem Golfkrieg von 1991 hatte es keinen Raketenalarm in der israelischen Stadt mehr gegeben. Die Französin Marie-Charlotte Mery lebt seit einem Jahr in Tel Aviv - und spricht im Interview über ihre Gefühle, als die erste Rakete explodierte.

Marie, wo warst du, als am Donnerstag zum ersten Mal Raketenalarm in Tel Aviv ausgelöst wurde?

Ich war gerade mit einem Freund unterwegs. Wir hatten schon gehört, dass eine Rakete auf eine Stadt in der Nähe von Tel Aviv abgefeuert wurde. Aber - es fühlte sich einfach surreal an: Man denkt immer: Bis hierhin kommen die Raketen nicht. Das Leben hier in Tel Aviv ist wie in einer Blase, es fühlt sich sehr sicher an. Aber als ich dann tatsächlich die Sirenen hörte, konnte ich plötzlich meine Beine nicht mehr spüren, sie waren wie Wackelpudding.

Wie haben die Menschen auf der Straße reagiert?

In Tel Aviv hat man eine Minute, um in die Schutzräume zu gelangen, bevor die Rakete einschlägt. Aber wir wussten nicht, wo der nächste öffentliche Schutzraum war. Es war für alle völlig überraschend, niemand wusste, wie er reagieren sollte - zumindest nicht dort, wo ich war. Alle standen nur regungslos da und haben gewartet. Der Einschlag selbst war nicht sehr laut, es kommt natürlich immer darauf an, wie nah man dran ist.

Und nach dem Einschlag?

Die Handynetze waren völlig überlastet, weil alle versucht haben zu telefonieren. Ich konnte meine Eltern per Skype mit dem Smartphone erreichen. Ich wusste ja nicht, ob in den europäischen Nachrichten dramatische Bilder gezeigt werden und sie sich sorgen, weil ich nicht erreichbar bin. Aber meine Mutter hatte noch gar nichts von dem Angriff gehört. Nachdem ich meine Freunde und meinen Mitbewohner erreicht hatte, sind wir wieder zurück in das Café gegangen, in dem wir vorher gesessen hatten. Wir wollten nicht alleine sein. Das ist wohl das Positive an solchen Situationen, es bringt die Menschen dazu, enger zusammen zu rücken. Aber es war seltsam: Einige Leute saßen noch immer an ihren Plätzen und waren am Essen. 

Hat es seitdem noch mehr Alarme gegeben?

Ja, am Freitag kam der zweite. Ich war mit meinem Mitbewohner zuhause. Wir sind dann ins Treppenhaus gegangen, weil unser Haus keinen Schutzraum hat. Ich muss noch nachsehen, wo der nächste öffentliche Schutzraum liegt, aber selbst dann hätten wir ja nur eine Minute Zeit, um dahin zu kommen. Und heute war ich wieder mitten auf der Straße, zwei Raketen diesmal. Die Menschen sind losgerannt und ich hinterher. Es war näher und lauter als beim letzten Mal - eine Rakete wurde in der Luft von der Artillerie abgefangen. Eine Freundin hat es von ihrem Haus aus beobachtet. Ich hatte diesmal wirklich Angst, aber mein Vater hat mich am Telefon beruhigt. 

Deine eigene Meinung zum Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern?

Ich weiß nicht, es ist nicht mein Krieg. Ich bin nicht gut genug informiert. Ich habe mir die französischen Nachrichten angesehen und muss ihnen zumindest teilweise widersprechen, weil sie immer nur vom Schaden auf der palästinensischen Seite reden. Aber auf beide Seiten wird geschossen und im Süden Israels verlieren Leute auch ihre Häuser und sterben. Es ist einfach schrecklich für beide Seiten. Ich mache mir Sorgen, dass Freunde eingezogen werden. Heute [Samstag] habe ich von einem gehört. Aber ein anderer Freund hat mir gesagt, er sei in einer 'guten Einheit' - keine Ahnung, was das heißt. Vielleicht, dass er nicht bei den Bodentruppen dabei ist, wenn es wirklich eine Bodenoffensive gibt.

Hast du selbst Kontakt zu Palästinensern?

Ja, ich bin schon oft in Palästina gewesen und habe auch Freunde, die in Ramallah und in Bethlehem leben; arabische Israelis, die gleichzeitig Muslime sind und in der israelischen Armee. Vor zwei Jahren hatte ich die Chance, mit jungen Palästinensern, jungen Jordaniern und jungen Israelis nach Jordanien zu reisen. Wir haben in einem ökologischen Projekt gearbeitet, das sich mit der Verlandung des Toten Meeres beschäftigt. Es war wirklich gut, alle haben zusammen gearbeitet, um Lösungen zu finden. Ich habe mit ihnen seit Mittwoch nicht mehr gesprochen. Ich glaube, ich sollte mich dringend bei einem Freund erkundigen, wie es ihm geht. Er ist Palästinenser und arbeitet in der Altstadt von Jerusalem.

Und wie stehen deine israelischen Freunde zum neuesten Gewaltausbruch?

Zumindest die Israelis, die ich kenne, wollen nur in Ruhe leben und mit niemandem kämpfen. Die meisten von ihnen sind eher links eingestellt und völlig frustriert von der "fucked up" Situation hier. Die meisten denken, dass die Regierung mit der Gaza-Offensive am Mittwoch einen großen Fehler begangen hat - trotzdem glaube ich, dass die internationale Reaktion unfair ist. Auf beiden Seiten sterben Menschen. Und natürlich sehen auch die Leute hier eine Verbindung zu den anstehenden Wahlen. Heute gab es eine Demo in Tel Aviv. Ein Slogan: "Refusing the election war! Refusing to die or kill in the name of a political spin." Viele hier überlegen, das Land zu verlassen - obwohl sie hier geboren wurden und es hier mögen. Aber wollen wir nicht alle an einem sicheren, stabilen und ruhigen Ort leben?

Überlegst du jetzt, zurück nach Frankreich zu gehen?

Ganz und gar nicht, ich hänge viel zu sehr an diesem Ort. Zumindest ist es noch zu früh, eine Entscheidung zu treffen. Natürlich, ich bin sauer, traurig und habe auch Angst. Aber - die Chancen von einer Rakete getroffen zu werden, sind geringer als bei einem Verkehrsunfall zu sterben. Zumindest sagen das die Leute, aber... Nach einem Einschlag denkst du natürlich: 'Oh Scheiße, das war sehr nah!' Und jeden Tag kommen die Einschläge tatsächlich näher.

Illustrationen: Teaserbild (cc)Pensiero/flickr; Im Text (cc)Rusty Stewart/flickr