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Putsch: "Die Türkei hat sich verändert"

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cafébabel DE

Politik

Der Militärputsch in der Türkei hat einen starken Ruck durch die türkische Außenpolitik verursacht. Die EU, die USA und Russland können nicht tatenlos zusehen. Aber was können wir in der unmittelbaren Zukunft erwarten? Gianpaolo Scarante, italienischer Botschafter in Ankara bis Ende 2015, kommentiert.

cafébabel: Wie wird die türkische Außenpolitik nach dem Putschversuch vom 15./ 16. Juli aussehen?

Gianpaolo Scarante: Die türkische Außenpolitik hat sich bereits geändert. Und das schon in den letzten 10 Jahren. Sie hat viele Zweifel hervorgerufen, da sie sich zunehmend von westlichen und europäischen Interessen gelöst hat. Die Türkei, die der NATO beitrat, existiert nicht mehr. Es ist ein Land, das nach seiner eigenen nationalen Identität sucht, die auf Wirtschaftsstärke beruht und auf etwas, das man heute den ‚neuen Ottomanismus‘ nennt - den türkischen 'Einflussbereich'. Die Frage, die man heute also stellen sollte, ist eher: Inwieweit ist die türkische Politik noch nach den Interessen Europas und dem Westen ausgerichtet? Sie wird es zunehmend weniger sein und es wäre gut, sich darauf vorzubereiten. Ich habe das Gefühl, dass Europa genau das nicht verstanden hat.

cafébabel: Wir werden sich die Beziehungen zwischen Türkei und Europa spezifisch verändern?

Gianpaolo Scarante: Man sollte auch einen Blick auf den Flüchtlingsdeal zwischen Türkei und Europa werfen. Es darf davon ausgegangen werden, dass die Türkei besonders den Zugang zur Europäischen Union - also ihr eigenes Interesse - im Blick hatte. Vor diesem Hintergrund hatte die EU angeboten, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wieder aufzunehmen und Visa-Erleichterungen einzuführen. Im Austausch dafür gab es mehr türkisches Engagement in der Flüchtlingskrise. Aber die grausame Wahrheit ist: das Hauptmotiv der Türkei ist schon längst nicht mehr der EU-Beitritt. Ein Beitriit ist in den nächsten Jahren ist sowieso eher unrealistisch - das wissen auch die Türken. Die EU muss verstehen, dass sie nicht mehr unbedingt aus einer Position der Stärke heraus verhandelt, sie hat keinen Zugriff mehr auf die Türkei in den Beitrittsverhandlungen und in Bezug auf Visa-Fragen. Europa, als Ganzes, muss dieses Ganze auch in Bezug auf die Türkei ausspielen, nicht nur in Teilstücken wie Einwanderung oder Wirtschaft. Und dann sind da noch die zahlreichen Repressionen, die gerade an der Tagesordnung sind, die das Land in Bezug auf Menschenrechte und persönliche Freiheiten um Jahrzehnte zurückwerfen. Das ist wirklich inakzeptabel.

cafébabel: Wie wird sich die Türkei in Bezug auf Russland und die USA positionieren?

Gianpaolo Scarante: Im Moment scheint die Türkei mehrere Karten gleichzeitig zu spielen, wie die Öffnungen gegenüber Russland und Israel zeigen. Die Idee, dass Ankara um jeden Preis ein Verbündeter des Westens und der Vereinigten Staaten sei, ist ein Irrglaube: die Türkei hält sich alle Optionen offen und macht, was ihr am besten passt. Wenn sie sich mit Russland verbünden möchte, dann wird sie das auch tun. In diesem Moment ist die Syrien-Krise ein herber Rückschlag für die Weltdiplomatie, eine der schlimmsten Fehleinschätzungen des Europas, was wir heute kennen. Wir wohnen aktuell einer pragmatischen Phase aller Betroffenen bei, auch der Vereinigten Staaten, die eine Art 'Aufteilung des Einflussbereichs' in Nahost mit Russland aushandeln. Und die Türkei wird die Seite wählen, die ihr am besten erscheint. Wenn die Russen den Türken Unterstützung gegen die Kurden zusagen zum Beispiel, könnte die Türkei in Russland einen Bündnispartner sehen. Die Türkei ist heute frei, sie ist weder mit der NATO noch mit der EU verbündet, und sie verfolgt nationale Interessen, die von denen der EU und dem Westen stark abweichen.

cafébabel: Wie groß ist das Risiko, dass die Todesstrafe in der Türkei wieder eingeführt wird?

Gianpaolo Scarante: Erdogan ist ziemlich gewieft. Unabhängig davon, ob die Todesstrafe nun wieder eingeführt wird oder nicht, werden Repressionen sehr hart sein (wie wir bereits beobachten können). Allerdings hat Erdogan mit seiner Drohung Europa gezwungen, deutliche Antworten zu geben und die Beitrittsverhandlungen im Fall der Wiedereinführung der Todesstrafe auszusetzen. Was dann soviel hieße wie - sollte die Todesstrafe also nicht eingeführt werden, bleiben die Verhandlungen auf jeden Fall offen. Ich denke nicht, dass das ein Fehler von Erdogan war, ich denke eher an einen cleveren Schachzug. Sollte sie wirklich eingeführt werden, würde sich die Türkei weiter isolieren.

Die Wahrnehmung und die Reaktion Erdoğans auf Events wie diese sind im Laufe der Jahre deutlich impulsiver und launischer geworden. Es gibt also auch ein Risiko, dass die Repressionen die ‚Oberhand gewinnen‘. Und genau in diesem Punkt muss Europa hart bleiben, nicht unbedingt in Bezug auf die Todesstrafe, die eine politische Strategie sein könnte. Aber mit Repressionen von solcher Stärke kann man schon gar nicht mehr von Verhandlungen oder von strategischen Beziehungen zwischen Europa und der Türkei sprechen. Politik ist kein moralisches Business, aber man sollte auch nicht solch eine unmoralische Politik zulassen. Im Übereinkommen zur Flüchtlingsfrage sollte man moralische Aspekte mit einbeziehen.

cafébabel: Welche Entwicklungen sehen Sie für die Zukunft?

Gianpaolo Scarante: Wir dürfen nicht nur die historischen Fetzen betrachten, die wir gerade vor uns haben, sondern die Geschichte in ihrer Gesamtheit betrachten. Und diese Geschichte besagt, dass die politische, diplomatische und ideologische Struktur, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde und fast ein Jahrhundert lang gehalten hat, heute drauf und dran ist, sich aufzulösen. Die Türkei geht in diesem Prozess vollkommen auf. Aber man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass historische Prozesse eben komplex sind. Was mich beunruhigt, ist, dass Europa darüber völlig im Dunklen zu tappen scheint.

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Gianpaolo Scarante war der italienische Botschafter in Ankara. Er ist aktuell Professor an der Universität von Padua, wo er 'International Relations' unterrichtet.

Translated from "La Turchia è cambiata, e dobbiamo rendercene conto in fretta"