Polen B: Auf Schengen wartet hier niemand
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Margarethe PadyszEs ist zwei Uhr nachts. Aus dem offenen Fenster im ersten Wagon ragt ein Kopf. Es ist der Leiter des Zuges, der einen guten Deal mit den Polen abgesprochen hat. In Weißrussland hat er stangenweise Zigarretten gekauft, die er nun eilig aus dem Zugfenster wirft. Der Mythos der sicheren Ostgrenzen der EU landet zusammen mit der Ware im Gebüsch.
Ich stehe auf dem holprigen Bürgersteig in Terespol. Ein paar Kilometer östlich - Weißrussland. Vor dem Hintergrund der Gebäude sticht das Schild mit polnischer Flagge und den Sternen der EU hervor. Die Stille des Samstagmorgens durchbricht lediglich der nach Brest abfahrende Zug und das Bellen eines herrenlosen Köters. Wie lebt es sich hier? - frage ich mich selbst. Nach einigen Schritten versperren mir zwei armselig bekleidete alte Frauen den Weg. Sie sind mit großen Tüten beladen. „Wodka? Wollnse Kippen?” - fragen sie. Dauernd blicken sie sich um, ob nicht die ein oder andere Polizeistreife um die Ecke biegt. Hohe Geldbußen können sie sich nicht leisten. Enttäuscht darüber, dass ich nicht rauche und nur wenig trinke, verkaufen sie mir eine Flasche mit einem Etikett voller unverständlicher russischer Symbole. Viel haben sie an mir nicht verdient. „Herzlich Willkommen in der Europäischen Union“ - denke ich.
Nur noch Wodka, Zigaretten und Benzin
„Die Leute gehen hier von einem auf den anderen Tag Pleite! In meinem Hotel haben innerhalb von drei Monaten gerade mal zehn Leute übernachtet. Früher gab es nicht genug freie Betten“, sagt der verbitterte Dawid, Inhaber eines Hotels in Terespol. Laut einer Statistik der Grenzpolizei der Woiwodschaft Podlachien hat der Verkehr mit Weißrussland nach dem Beitritt Polens zum Schengenraum um mehr als die Hälfte abgenommen. Das einst so lebendige Stadtbild hat sich in eine triste Kulisse verwandelt. Nur der Schmuggel von Wodka, Zigaretten und Benzin hat überlebt.
„Es ist alles beim Alten, nur die Preise sind nach oben gegangen, weil die Zollbeamten schwerer zu bestechen sind“, sagt ein Schmuggler. „Das ist Blödsinn!“ – widerspricht Cezar Grochowski, der Sprecher des Polizeipräsidiums von Biała Podlaska. „Die Kollegen von der Polizei und vom Grenzschutz tun alles Menschenmögliche, um ein für alle Mal mit den Schmugglern fertig zu werden!“ versichert er. „Vor einigen Jahren hat man hier fast jeden Tag ein Auto in Beschlag genommen, das bis zum Rand mit Schmuggelware voll war. Jetzt sind wir erstaunt darüber, wenn wir einen im Monat antreffen!“
„So ist das hier. Man muss sich daran gewöhnen”
Schmuggel ist nur ein Teil des Geschäfts. An der Grenze verdienen auch weißrussische Prostituierte mit… dem illegalen Handel von Kaviar. Als es noch Grenzverkehr gab, hat man Warteschlangen zum Grenzübergang Terespol gebildet. Am Ende der Schlange musste man mit bis zu 15 Stunden Wartezeit rechnen. Da brauchte man nur der entsprechenden Person Geld aus dem offenen Fenster entgegenzustrecken und schon war man erster in der Schlange.
Was sagen die übrigen Fahrer dazu? „Letztes Jahr hat sich ein Typ aufgeregt, da hat man ihm am helllichten Tag das Auto mit Benzin begossen und angezündet“, erinnert sich Łukasz. „Und die Polizei? Wie reagiert die?“ - frage ich und zaubere damit ein verschmitztes Grinsen auf seine Lippen. „Einen Kumpel meines Bruders hat man im eigenen Haus aufgehängt. Der hat Ware eingesammelt, die nicht seine war. Vor zwei Monaten hat man einem anderen den Hals aufgeschlitzt. Man sagt, der hat sich mit russischen Huren vergnügt, und sich dann mit ihnen zerstritten. Die beschwerten sich dann bei den Russen“, zählt Łukasz auf, ganz so, als ob er vom Wetter reden würde.
Reisen für ein Drittel des Monatsgehalts
Die mageren Jahre am Ostrand der Union begannen schon lange vor dem polnischen Beitritt zum Schengenraum, und zwar seit dem Fleischembargo der Russen gegen Polen. Bis zum 21. Dezember 2007 blühte der Handel mit Weißrussland. Heute sind die alten Beziehungen nicht mehr von Bedeutung. Neue Möglichkeiten erscheinen erst am Horizont - in weiter Ferne. Es ist nicht verwunderlich, dass die Bewohner krampfhaft an der alten Ordnung festhalten.
„Ein Freund war einer der größten Unternehmer. Ihm gehörte eine Fleischproduktion, eine Metzgerei, einige Lastwagen. Er beschäftigte über 100 Leute“, zählt Dawid auf. „In den letzten Monaten hat er praktisch Pleite gemacht.“ Es gibt einige dieser Sorte. Für sie scheint Schengen der Nagel zu ihrem Sarg zu sein. Und das alles, weil ein Schengenvisum für die Weißrussen 60 Euro kostet, was im Schnitt ein Drittel ihres Monatsgehalts ausmacht. „Wenn den Russen die Visa ausgehen, dann oh Mann! Die Hälfte aller Geschäfte in der Stadt geht den Bach runter. Das wird so ein Loch hier!“ sagt Paweł, ein Bewohner Terespols.
Geldsegen für „Polen B”
Solche Leute wie er haben sich mittlerweile an die Bezeichnung der Bewohner von „Polen B” gewöhnt. Sie trauen den Versprechen der Politiker nicht - den lokalen und auch nicht denen aus Brüssel. Währenddessen beginnen EU-Strukturgelder in die Region zu fließen. Die Regierung hat Mittel auf jede Woiwodschaft verteilt. So ein Prozess geschieht natürlich nicht von heute auf morgen. Man braucht Geduld, die sich nicht jeder leisten kann.
Hinterm Mond gleich östlich
Doch mit den Jahren kommt der Wandel. „Karopki” werden nicht mehr in den Büschen landen. Die Jungs aus Terespol gehen an die Uni. Die Alten werden mit ehrlicher Arbeit Geld verdienen. Unionsgelder werden neue Ideen für Beschäftigung im Osten Polens schaffen und mit ihnen kommen die Arbeitsplätze. „Fühlst du dich als Bürger der Europäischen Union?“ frage ich Paweł hoffnungsvoll. „Nein. Die leben ohne zu wissen, was hier läuft. Wir leben hier wie hinterm Mond”, sagt er zum Abschied.
Translated from Tu na Schengen nie czekali