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Peter Schneider: "Europa muss ein großes Palaver anstellen"

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Berlin

Peter Schneider war in den 1960ern und 1970ern einer der Wortführer der Berliner Studentenbewegung. Sein Roman Lenz (1973) ist ein Kultbuch der Linken, Das Versprechen (1995) ein wichtiges Dokument der Wiedervereinigung. Cafébabel sprach mit dem Schriftsteller über Euorpa, die Generation Y und die Vorbildfunktion der 68er. 

Cafébabel: Bei der Dispute over Europe am 2. Mai haben Sie gesagt: „Wenn ich jung, arm und bei Verstand wäre, würde ich am liebsten in Europa leben.“ Meinen Sie, das kann man in 15 Jahren immer noch so sagen?

Peter Schneider: Ich habe oft das Gefühl, dass viele Europäer gar nicht wissen, was für ein unglaubliches Glück sie haben. Ich bin wirklich der letzte, der kleinreden würde, dass es auch hier enorme Missstände gibt. Die ständig wachsende Kluft zwischen arm und reich zum Beispiel oder die Massenarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern. Das wird uns noch um die Ohren fliegen, denn man kann nicht ungestraft eine halbe Generation für verloren geben. Trotzdem sind unsere Missstände verglichen mit anderen Missständen beneidenswert. Wenn man aber nicht weiß, dass es da etwas gibt, das es zu verteidigen gilt, dann zerfällt es auch. Insofern ist die Antwort auf Ihre Frage: Ich hoffe sehr, dass ich in 15 Jahren diesen Satz wiederholen kann, aber sicher bin ich nicht.

Cafébabel: Wir sprechen ja fast pausenlos von einer angeblichen „Misere Europas“. Warum sind wir so fixiert auf das, was scheinbar nicht läuft?

Peter Schneider: Das ist schon etwas sehr Merkwürdiges. Wenn man nicht mit dem Positiven anfängt, hat man doch gar nicht die Energie, um Missstände zu beseitigen, oder? Besonders die Deutschen sind Weltmeister im Warnen, im Beschwören von Katastrophen. Dabei geht es uns so gut wie kaum jemandem auf dieser Welt. Das ist ein empörendes Missverhältnis. Die USA gelten immer noch als das Sehnsuchtsort, an dem jeder es zu etwas bringen kann, dabei stimmt das längst nicht mehr. Wer in Amerika arm ist, ist viel schlimmer arm als in Europa.

Cafébabel: Warum wollen sich viele Europäer scheinbar nicht für das Erreichte einsetzen?

Peter Schneider: Das ist das Dumme. Es wird Menschen immer erst in einer ernsthaften Krise bewusst, dass sie etwas haben, von dem sie gar nicht wussten, dass es verteidigt werden muss. Für viele junge Leute ist es völlig selbstverständlich, ihr Wochenende in London, Paris oder Madrid verbringen. Aber sie würden niemals aus den Ferien zurückkommen, um an der Europawahl teilzunehmen. Da wird etwas viel zu selbstverständlich genommen.

Cafébabel: Laut einer großen NEON-Umfrage (09/2014) finden nur 27% der jungen Deutschen, dass „unpolitisch sein“ eine Beleidigung ist...

Peter Schneider: Das würde ich nicht so ernst nehmen, denn was ist schon die Definition von „politisch sein“? Ich halte diese pauschalen Vorwürfe gegen die jüngere Generation für ein Gratisgehabe von älteren Damen und Herren, die einen falschen Stolz auf ihre 68er-Jugend haben. Da ist auch viel falsch gemacht worden. Außerdem haben die meisten keine Ahnung von den neuen Strukturen. Ich finde die Sharing Economy zum Beispiel hochpolitisch, obwohl viele, die daran teilhaben, das vielleicht gar nicht so empfinden. Da stecken viele Ideale drin, die wir als 68er in die Welt gesetzt, dann aber nicht umgesetzt haben.

Cafébabel: Muss sich dann nicht auch die Demokratie wandeln, wenn junge Menschen neue Strukturen entwickeln?

Peter Schneider: Da muss man absolut etwas Neues erfinden. Man sollte zum Beispiel technische Wege finden, um online wählen zu können. Es muss aber unter den Jüngeren auch so etwas wie Vorkämpfer oder Sprecher geben. Das ist meine Kritik an all den tollen Bewegungen – ich habe zum Beispiel eine enorme Hoffnung gesetzt in Occupy Wallstreet. Das war genau die richtige Reaktion auf die Finanzwirtschaftsverbrecher. Es gibt da aber komischerweise eine Verabredung, jede Art von personeller Autorität abzulehnen. Wenn einer dreimal im Fernsehen war, dann ist der schon verdächtig! Man braucht aber Leute, die in der Lage sind zu reden und zu verhandeln. Wo ist heute die Occupy-Bewegung? Das Thema ist doch immer noch da.

Cafébabel: Meinen Sie, die Generation Y sollte sich die 68er zum Vorbild nehmen? 

Peter Schneider: Die 68er-Bewegung war eine einmalige historische Erscheinung. Deswegen ist es auch Blödsinn, wenn man von jeder Generation erwartet, dass sie jetzt irgendeine Art „86“ veranstalten. Die 68er-Bewegung, das waren zwei wichtige Faktoren: der Vietnam-Krieg und die Auseinandersetzung speziell in Deutschland mit der Nazigeneration. Das musste einfach passieren, das ist aber so nicht wiederholbar. Ich glaube, jede Generation muss ihre eigene Ausdrucksform finden.

Cafébabel: Warum glauben Sie, die heutige Generation sei „friedensverwöhnt“?

Peter Schneider: In Europa kann man sich Krieg Gott sei Dank nicht mehr vorstellen. Manche gehen sogar so weit zu sagen, Krieg sei ein Mittel des 20. Jahrhunderts. Das ist natürlich reines Wunschdenken! Wir sind ja umgeben von Kriegen. Wir leben nur auf dem bevorzugten Zipfel der Welt, auf dem Krieg tatsächlich nicht mehr denkbar ist. Daraus zu folgern, dass wir all jenen Regionen, in denen Krieg herrscht, den Rücken zukehren und die anderen machen lassen, ist eine total verlogene Haltung. Das ist eine Art von Friedenstriumphalismus, die nichts mit der Wahrnehmung der Welt zu tun hat.

Cafébabel: Denkt man an die Ukraine-Krise und den Krieg in Syrien, rücken die Feierlichkeiten rund um den Mauerfall beinahe in den Hintergrund...

Peter Schneider: Ich bin generell skeptisch angesichts der Tatsache, dass wir fast nur noch in Jahrestagen leben. Wir haben fast keine Gegenwart mehr, weil wir ständig irgendwelche Jahrestage feiern. Uns wird die Gegenwart genommen! Die Geschichte wird doch heute gemacht. Dabei werden wir überwältigt durch die ewigen Jahrestage, diese Feiern und Reden und Dokumentationen im Fernsehen. Wo und wann leben wir eigentlich? Wo ist unsere Geschichte?

Cafébabel: Wie könnte man die Geschichte Europas aktiv in die Hand nehmen?  

Peter Schneider: Das ist ja die Idee der Europäischen Streitgespräche. Was Europa am meisten fehlt, ist ein fair geführter Streit über die verschiedenen Optionen. Wir müssen ein großes Palaver anstellen. Die Politiker bringen die Debatte über Europa nicht weiter, sie treffen sich bei jeder Krise hinter verschlossenen Türen, treten dann mit einem neuen Plan vor das Wahlvolk und wir sind alle ratlos, wo es eigentlich hingeht. Es muss viel mehr darüber gestritten werden! Je lauter der Streit über Europa wird, desto mehr werden sich auch die Politiker bemüßigt fühlen, mit ihren Bürgern gemeinsam nach Lösungen zu suchen.