Per Anhalter durch die Apokalypse: Die Arche Europa
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Am 21. Dezember soll laut Maya-Kalender die Welt untergehen: Ein Chinese baut kleine Kugelkapseln, ein Niederländer baut die Arche Noah nach, ein Russe konstruiert eine postmoderne Turbo-Arche. Durch irgendeinen utopischen Zufall hat eine Handvoll junger Europäer einen Platz auf der erdachten Arche der Neuzeit ergattern können. Ihr Ziel: eine neue europäische Gesellschaft mitgestalten. Aber wie?
Ein kitschig-apokalyptisches Endzeitszenario.
Machen wir folgendes Gedankenexperiment. Bevor sich ein gigantischer Tsunami am 21. Dezember über die Welt ergießt und die Apokalypse droht, hat sich eine Gruppe junger Europäer bereits vor ein paar Monaten per Anhalter auf den Weg gemacht, um sich einen Platz auf der Arche zu sichern. In Emmerichs Streifen 2012 kostete ein Platz auf der Arche eine Milliarde Dollar. Ziemlich utopisch also anzunehmen, dass sich die europäische Jugend unter den Passagieren befindet. Im Jahr 2012 stieg die Jugendarbeitslosigkeit in Europa auf erschreckende Zahlen – auf den Konten junger Europäer herrscht ziemliche Ebbe.
Am Eingang der Arche drängen sich womöglich arabische Scheiche, neureiche Russen und deutsche und skandinavische Rentner. Und ein junges europäisches Team, aus der Puste, per Anhalter gekommen, das sich irgendwie mit reinmogelt. Vielleicht wird sich ja doch jemand darüber bewusst, dass diese 'verlorene Generation' hilfreich sein könnte, um irgendwo in der nachapokalyptischen Einöde eine neue Gesellschaft aus dem Nichts zu stampfen.
Gadgets über Bord
Orgie, Angst, Essen: 32% der Europäer bereiten sich auf den Weltuntergang 2012 vor
In der letzten E-Mail, die sich das Team Europa vor Aufbruch geschickt hatte, stand nur eine kurze Nachricht: Bringt etwas oder jemanden mit, der oder das euch wichtig ist, um eine neue europäische Gesellschaft zu gestalten. Erstaunlich ist: niemand aus der Gruppe hat sein Smartphone, seinen E-Reader oder seine Illy-Kaffeemaschine dabei (obwohl der Italiener kurz gezögert hatte…). Es ist kein Platz für postmoderne, ultraspezifische Gadgets nach der Apokalypse: Ausgepackt werden dafür Ideen und Konzepte. Klingt spießig?
Fernando, ein junger Spanier, läuft ziemlich gekrümmt, er hat den größten Rucksack: Darin ein tragbares Klavier „das schönste und ausgeklügeltste Objekt, das ein Europäer jemals erfunden hat“. Natalia aus Polen hat das Erasmusprogramm, das diese Jahr fast untergegangen war, in der Tasche, Aca aus Serbien will CERN-Daten in die neue Welt rüberretten, Cristina aus Spanien denkt an eine Anleitung zur Revolution – „das ist ein tatsächlich europäisches Erbe. Haben wir dann erstmal einen Status quo gefunden, können wir ihn auch gleich wieder kippen.“
Elina aus Griechenland hatte kurz gezögert: “Mal sehen, was ist Europa und nicht Asien, Ozeanien oder Afrika. Europäische Länder haben eine gemeinsame Bindung über Politik, Philosophie und Wissenschaft. Ich werde ein Politik- oder Philosophiehandbuch mitnehmen. Das eine kann aus dem anderen hervorgehen.“
Weltuntergangswein zum Ende der Kultur
Eigentlich hatte der Erdrutsch in Europa ja längst eingesetzt. Die apokalyptische Finanzkrise ist drauf und dran, alles abzugrasen und einzustampfen, was in Europa noch an kreativen und innovativen Ideen existiert. Verklauselt und unverständlich klingt das heutige Europa, in dem die Entscheidungen auf einem x-ten Gipfel zur Bankenunion wieder auf’s nächste Jahr vertagt werden.
Giacomo aus Italien ist müde, er hatte eigentlich einen Lowcost-Flug nach Hause gebucht (das billigste Ticket im ganzen Monat), sich aber nun doch entschlossen, der Mission Arche Europa zu folgen. Zusammen mit seiner Freundin möchte er eine „brandneue Gesellschaft ohne Schuldenberge, Wirtschaftswachstum und Arbeitslosenquoten“. Die kann der Tsunami gern mit sich reißen. Stattdessen sollte seine neue humanistische Elite „Endlosdiskussionen bei Endlosabendessen“ führen dürfen. Soili aus Finnland ist sicherlich mit im Boot. Sie hat einen Weinstock eingepackt, „wir Europäer brauchen Wein.“
Doch wohin steuert unsere Ideenkultur? In wirtschaftlich bitteren Zeiten geht es der Kultur immer zuerst an den Kragen. Die 2012 mithilfe von Crowdsourcing erstellte Google Map 6 europäischer Tageszeitungen zeigt deutlich: Museen, Theater, Galerien oder Stipendien gehen momentan reihenweise den Bach runter. Warum zur Hölle schnappt sich dann aber fast jeder Passagier ein Buch oder Musik, kurz bevor man gen Arche aufbricht? Alexandra aus der Ukraine hat ganz schön schwer zu schleppen, sie hat jeweils ein Buch von einem männlichen, eins von einem weiblichen Autoren aus allen Ländern Europas im Handgepäck. Emmanuel aus Frankreich schließt sich an: „Die Literatur ist vielleicht das Einzige, was uns in Europa heute noch verbindet.“ Annie aus Schottland konnte sich für kein Buch entscheiden. Deshalb hat sie einen Storyteller im Schlepptau, denn “Geschichten sind Kompasse, die uns neue Wege zeigen.“
Die große Abwesende und was von Europa bleibt
Doch das Buch, an das kein einziger Europäer in letzter Minute gedacht hatte, ist ein religiöses Buch. Luc aus Holland will zwar Toleranz an Bord – „ich wünschte, dass wir Vielfalt als Geschenk und nicht als Last begreifen“ - auch Falk aus Deutschland bringt „Parameter für Weitblick, interkulturelle Kompetenz, Toleranz, Selbstreflexion und Kompromissbereitschaft“ mit. Doch weit und breit ist keine Bibel, kein Koran, keine Thora am Horizont, obwohl in Europa viel über diese Bücher gestritten wird. Doch Toleranz schön und gut: Sergio aus Luxemburg bringt vorsichtshalber auch ein Maschinengewehr mit – „um sich vor den Wilden zu schützen. Auch das ist europäisch!“
Was bleibt also vom alten im neuen Europa? Eine philosophierend- beschwipste und zudem bewaffnete Herde mehrsprachiger Toleranzprediger mit Politikhandbuch und europäischer Bibliothek… und Zlatan! Auch den wollte Sébastien mit auf der Arche wissen. Hinzu kommt viel Zeit zur Fortpflanzung (mit an Bord Hélènes Gast: Michael Fassbender) und zum Ideenaustausch – ganz ohne Flatscreens, Arbeitslosenzahlen und Fastfood. Vielleicht sollten wir aus der Arche Europa einen guten Vorsatz machen – nur falls am 22. Dezember immer noch alles so sein sollte wie vorher.
Illustrationen: Teaserbild (cc)Alex E. Proimos/flickr; Im Text: Arche (cc)h.koppdelaney/flickr, Weitblick (cc)Brendon Burton/flickr, Team (cc)yug_and_her/flickr