Papigate: Die "Show Girls" Politik der Ära Berlusconi
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Lilian PithanItalien im Hochsommer 2009. Seit ein paar Monaten ist das schönste Land der Erde wie gelähmt: Die Papigate-Affäre, wie die Italiener den Sexskandal um ihren amtierenden Premierminister, der sich laut Aussage seiner Ex-Frau mit Minderjährigen vergnüge, nennen, hält das Land weiterhin in Atem. Eine Demokratie vor dem politischen Selbstmord.
Auch wenn sein politisches Boot unterzugehen droht - selbst wenn das, will man den Umfragen denn Glauben schenken, nie geschehen wird - verliert Berlusconi nicht die Lust daran, alle Frauen seiner Umgebung, seien sie nun Escort-Damen oder Ministerinnen, wie Freiwild zu behandeln: „Ich habe noch nie für eine Frau bezahlt. Es war mir auch noch nie klar, wie einen das zufrieden stellen kann. Da fehlt doch vollkommen der Kick der Eroberung!“ behauptet Berlusconi, um das Escort-Girl Patrizia D’Addario, die vor kurzem mit der Behauptung an die Öffentlichkeit getreten war, dass sie die Nacht, in der Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, mit dem italienischen Premier verbracht habe, Lügen zu strafen.
Die Eroberungen Berlusconis verraten auch einiges über ein Land, das immer verrückter und handlungsunfähiger wird.
Vor ein paar Tagen, mitten im Sommerloch, legte Berlusconi noch einmal nach: „Die Zeitungsfritzen sagen immer, dass ich Frauen hasse. Aber wenn es etwas gibt, das ich wirklich liebe, dann sind es doch Frauen! Auch Ministerinnen!“ Daran zweifeln die Italiener schon länger nicht mehr. Aber die Eroberungen Berlusconis, die mittlerweile zu todlangweiligen Déjà Vus verkommen und nur noch für Stammtischgespräche taugen, verraten auch einiges über ein Land, das immer verrückter und handlungsunfähiger wird: ein Land, in dem selbst das Unmögliche möglich ist.
Leben in einer „videocracy“
Doch die Papigate-Affäre ist nicht nur Ausdruck der allgemeinen Folklore um Berlusconi. Sie zeugt auch von einer gesellschaftlichen und kulturellen Revolution, wie sie beispielsweise Erik Gandini, der Regisseur des Dokumentarfilms Videocracy, und Lorella Zanardo zusammen mit Marco Malfi Chindemi in Il corpo delle donne (Der Körper der Frauen; A.d.R.) beschreiben. Der weibliche Körper ist in den italienischen Medien omnipräsent und auf Massentauglichkeit programmiert: Die Fernsehdamen sind jung, schön und für jeden zu haben, exhibitionistisch veranlagt, gepflegt bis zur Zwanghaftigkeit, verehrt, aber auch verlacht. Doch wer sich über sie nicht erheitern kann, wird von der Mehrzahl der Italiener für neidisch und vom eigenen Leben enttäuscht erklärt.
Laut der konservativen Tageszeitung Libero sei die Ex-Frau Berlusconis beispielsweise nur eine undankbare velina (Bezeichnung für die meist nur spärlich bekleideten Nummerngirls im italienischen Fernsehen; A.d.R.), da sie ihren Ex-Mann öffentlich angeklagt hat. Die Mädchen des italienischen Prekariats, die in den Sommermonaten die Zeitungen füllen, sind hingegen ein guter Vorwand für pseudoliterarische Ergüsse. Von den Medien zur Politik ist es aber nur ein kleiner Schritt: Wahlweise als veline, meteorine, letterine oder letteronze bezeichnet, sind die italienischen Showgirls mittlerweile zu wahren Popikonen geworden und werden häufig nach einem schlauen Restyling erfolgreich an die Politik weitergereicht.
Dank Pornokalender in die Politik
Der berühmteste Fall ist der der Gleichstellungsministerin Mara Carfagna, die innerhalb weniger Jahre vom Modell eines Pornokalenders der Zeitschrift Max zur Verfechterin von konservativen Parolen wie „Gott, Heimatland und Familie“ oder „Rom, Wiege des Christentums“ geworden ist. Ebenso ungewöhnlich - zumindest für Brüsseler Verhältnisse - ist der Aufstieg der Europaparlamentsabgeordneten Barbara Matera, Jahrgang 1981, die noch bis vor kurzem als Schauspielerin in Fernsehserien von zweifelhafter Qualität, als Nachrichtensprecherin der RAI (die italienischen öffentlich rechtlichen Fernsehsender; A.d.R.) und als Halbfinalistin der Miss Italia-Wahlen in Erscheinung getreten war. Ihr Lebenslauf, den sie auf ihrer persönlichen Internetseite veröffentlicht hat, ist allerdings erschreckend aussagelos, sobald es um ihre politischen Aktivitäten geht. Mit 28 Jahren bereitet Matera sich nun darauf vor, einen Universitätsabschluss abzulegen: „Wenn ich die letzten Prüfungen hinter mir habe, nehme ich den Sitz im Europaparlament, den ich auf der Liste der Partei Popolo della Libertà (auf Deutsch „Volk der Freiheit“; A.d.R.) für die Fraktion des Collegio Sud gewonnen habe, an. In meiner Abschlussarbeit geht es vor allem um die Reform der Mittelschulen in Italien.“
Doch auch Francesca Pascale, eine frühere Mitarbeiterin des Programms Telecafone eines unbedeutenden Lokalsenders, ist eine Notiz wert: Seit ihrem Auftritt in dem Video „Se abbassi la mutanda si alza l’auditel“ („Wenn Du den Slip ausziehst, erhöht das die Einschaltquoten“) und der Gründung des Komitees „Silvio, ci manchi!“ („Silvio, du fehlst uns!“; zur Unterstützung der Wiederwahl Berlusconis; A.d.R.) ist sie zur Kultfigur aufgestiegen und geht in Neapel auf lokaler Ebene politischen Aktivitäten nach. So ist sie zum Beispiel Mitarbeiterin der Presseabteilung des Kultusministeriums.
Die italienischen Frauen sagen den Machos den Kampf an
Es scheint so, als bestehe wirklich Grund zur Rebellion. Wo sind in dieser ganzen Debatte nur die Frauen geblieben? Ganz zu schweigen von den Feministinnen! Das fragen sich viele, nicht nur unter den Betroffenen. Die Streitschrift der Politologin Nadia Urbinati, die vor kurzem in der Zeitung Unità (auf Deutsch „Einheit“, A.d.R.) veröffentlicht worden ist, macht eine klare Ansage: „Wir müssen ganz von vorne, mit den grundlegenden Dingen anfangen. Man könnte zum Beispiel mit einem Apell beginnen. Ein paar Frauen bereiten sich darauf vor: Öffentliche Apelle sind kein veraltetes Aktionsmittel. Heutzutage sind sie sogar innovativ! Wir könnten aber auch damit anfangen, einfach nicht mehr so hörig zu sein.“ Unter den Meinungsäußerungen von italienischen Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen und Universitätsprofessorinnen ist ebenso die Reaktion von Chiara Volpato in der New York Times vom 26. August 2009 hervorzuheben.
Feministische Gruppierungen sind in Italien weit verbreitet und sehr aktiv, doch sie leiden unter ihrer Unfähigkeit, stabile Netzwerke zu errichten.
Die Debatte scheint demnach wieder eröffnet. Doch die Diskussionen sind immer die gleichen: Ein selbstkritischer Apell jagt den anderen, theoretische Positionsbestimmungen und lange Konferenzen sind beliebt, doch ist die Fantasie der Aktivistinnen schnell erschöpft. Feministische Gruppierungen sind in Italien weit verbreitet und sehr aktiv, doch sie leiden unter ihrer Unfähigkeit, stabile Netzwerke zu errichten. Wenn ihnen das doch einmal gelingt, dann wird meist kein Konsens mit den jüngeren Generationen gefunden. Es fehlt aber nicht nur an Begegnungsorten - von der Casa internazionale delle donne die Roma (auf Deutsch „Internationales Haus der Römischen Frauen“; A.d.R.) einmal abgesehen - sondern vor allem an Visionen für eine Veränderung des politischen Tagesgeschäfts, die besser strukturiert sein und nicht nur auf individuellen Befindlichkeiten basieren müssten. Daher ist besonders die Rolle alter und neuer Hilfsmittel, um die Massen zu mobilisieren und neue Mitstreiterinnen zu gewinnen, wie zum Beispiel durch soziale Netzwerke, nicht zu vernachlässigen. Kissinger würde in diesem Fall wohl fragen: „Wo muss ich anrufen, wenn ich mit der italienischen Frauenbewegung sprechen will?“
Translated from L’era Berlusconi: dove l’impossibile diventa realtà