Ostdeutschland: Die aufgestülpte Demokratie
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In Ostdeutschland wurde der demokratische Aufbruch von den wirtschaftlichen Problemen erstickt. Doch im Jahr 15 der Wiedervereinigung gewinnt der Osten an Selbstvertrauen, und damit auch die Demokratie in den neuen Ländern.
Abwanderung, Massenarbeitslosigkeit, Rechtsextremismus: Über 14 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist die anfängliche Euphorie der Ostdeutschen längst in Ernüchterung umgeschlagen. Seit 1991 sind 712.000 Bürger aus den neuen Bundesländern in den Westen abgewandert, denn im Osten ist die Arbeit knapp. Im Dezember 2004 lag die Arbeitslosenquote in den fünf neuen Ländern bei 20,9%, im Westen bei 10,2%. Diese Lage schlägt sich zunehmend in den Wahlergebnissen nieder. Bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen im September desselben Jahres entfielen auf die postkommunistische PDS 23, 6% der Stimmen, die rechtsextreme NPD konnte 9,2% der Wähler für sich gewinnen. Und die SPD von Bundeskanzler Schröder kam gerade einmal auf 9,8%.
Über Nacht ein anderer Staat
Der Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostdeutschland scheint also nicht in die Gänge zu kommen. Dabei hatte alles vielversprechend angefangen. Nicht westdeutsche Politiker, sondern die Menschen in der DDR waren es, die die Mauer am 9. November 1989 zum Einsturz brachten. Die Demokratie wurde nicht vom Westen exportiert, der Osten hat sie sich selbst erkämpft. Doch nachdem das DDR-Regime zusammengebrochen war, wurde die Bürgerbewegung von den sich überstürzenden Ereignissen und vom damaligen BRD-Kanzler Helmut Kohl überrollt. Dieser witterte die Gunst der Stunde und führte Deutschland innerhalb eines Jahres zur Wiedervereinigung. Doch dem deutschen Staat wurde keine neue gesamtdeutsche Verfassung gegeben, sondern die DDR wurde am 3. Oktober einfach an den Westen angeschlossen: Ab nun galt das Grundgesetz der BRD.
Die Menschen in der DDR waren mit diesem Systemexport durchaus einverstanden. Der Grund dafür war simpel. Sie wollten die D-Mark, Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität. Doch diese Träume zerplatzten, denn bald zeigte sich der Kapitalismus von seiner hässlichen Seite. Marode DDR-Betriebe wurden geschlossen, die Menschen verloren ihre Arbeit. Seitdem lebt der Osten auf Pump. Der „Solidaritätszuschlag“, der jedem Westbürger von seinem Lohn abgezogen wird, garantiert den Ostländern Gelder zum Aufbau der Infrastruktur. Doch auch wenn die Altstädte vielerort wieder glänzen, sind die Probleme hinter den strahlenden Fassaden die gleichen geblieben. Private Investitionen, die die Wirtschaft in Schwung bringen können, blieben Mangelware.
Der grüne Pfeil
Auch politisch sollte vom alten DDR-System nicht viel übrigbleiben. Schnell wurden altgediente Westpolitiker Ministerpräsidenten in den neuen Ländern und auch in anderen führenden Positionen, etwa in der Wirtschaft, wurde der Osten von der West-Elite regiert. Öffentlich zu sagen, dass es in der DDR auch Gutes gab, war Tabu. Schliesslich war die DDR eine Diktatur und die durfte nun einmal keine positiven Errungenschaften vorweisen. Und so wurde der „grüne Pfeil“, der es Autofahrern erlaubt, auch bei roter Ampel rechts abzubiegen, zum traurigen Symbol für mangelnde Anerkennung der „Ossis“ durch die „Wessis“, denn er blieb die einzige Errungenschaft, die vom Osten in den Westen exportiert wurde. Kein Wunder, dass die Bürger sich in die Verklärung der Vergangenheit flüchteten. Vor einem Jahr schwappte, ausgelöst von dem Kino-Hit „Good-bye Lenin“, die „Ostalgie-Welle“ über Deutschland hinweg. Die DDR war plötzlich angesagt und in unzähligen Fernseh-Shows wurde die Erinnerung an das Leben von damals massentauglich aufbereitet.
Positive Signale
15 Jahre nach der Wiedervereinung gewinnt der Osten an Selbstvertrauen. Mit Oppositionsführerin Angela Merkel mischt eine Frau aus dem Osten in der obersten Liga der deutschen Politik mit - ein Zeichen dafür, dass die neuen Länder die Bundespolitik viel stärker mitbestimmen als früher. Und auch in der Nationalmannschaft, seit jeher untrüglicher Indikator der deutschen Befindlichkeit, haben ostdeutsche Stars wie Michael Ballack das Sagen. Und vielleicht hat auch die umstrittene Äußerung des neuen Bundespräsidenten Köhler, der die Subventionen für die neuen Länder in Frage stellte, ihr Gutes. Denn sie zeigen, dass die Probleme zwischen Ost und West inzwischen offen angesprochen werden können.
Den neuen Ländern dürfte in Zukunft mehr zugemutet und damit auch mehr zugetraut werden. Doch so schwierig die Probleme auch sind, unlösbar sind sie nicht. Deshalb könnten gerade Länder wie die Ukraine aus der Erfahrung Ostdeutschlands lernen. Denn nach der Euphorie wird sich auch dort Ernüchterung breit machen. Wie die Menschen in der ehemaligen DDR wird auch die Bevölkerung der Ukraine vor allem eines brauchen, will sie sich zunehmend nach Westen orientieren: Einen langen Atem.