Norman Davies: "Eine historische Wahrheit gibt es nicht"
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Malte KoppeNorman Davies, ein britischer Historiker, der sich auf die Geschichte Polens spezialisiert hat, demaskiert das Konzept der historischen Wahrheit. Ein Gespräch von Napoleon bis Katyń.
cafebabel.com: Was ist Geschichte? Die Rekonstruktion von Fakten oder das Schaffen derselben?
Norman Davies: Meiner Meinung nach ist in der Geschichte nichts zu 100% sicher. Zu Anfang sollten wir einsehen, dass Fakten nur in einem Kontext Sinn machen. Zum Beispiel: Napoleon isst Frühstück… Das Faktum, das nun für den Biographen von Napoleon interessant sein könnte, ist das Datum dieses Frühstücks. Für den Ernährungshistoriker ist eher wichtig, was er aß - Eier mit Speck oder vielleicht Joghurt. Jeder wählt aus Billionen, Trillionen, ja Quadrillionen von Fakten das aus, was am besten zu seiner Erzählung passt. Fakten sind von Historikern ausgewählte und anerkannte Ereignisse, das heißt sie sind ungewiss - und außerdem betrachtet jeder andere Dinge. Am schlimmsten sind die, die behaupten, die historische Wahrheit zu kennen, was anderen wiederum nicht gegeben wurde. Das ist eine Haltung, die so nicht zu akzeptieren ist.
cafebabel.com: Könnten Sie einige Beispiele anführen, wo die Neuschreibung der Geschichte besonders augenscheinlich ist?
Norman Davies: In jedem Land wird die Geschichte ständig neu geschrieben. Niemand wird die Wahrheit auf ewig festschreiben können. Die Perspektiven ändern sich und Geschichte wird fortwährend geschrieben. Wie man in Amerika heute die Geschichte der Schwarzen sieht, steht komplett dem entgegen, was noch vor gar nicht langer Zeit, vor kaum 40 Jahren, behauptet wurde. Bis vor kurzem sah auch die Mehrheit der englischen Historiker keinen Sinn in den Handlungen der irischen Republikaner - erst heute erkennen sie an, dass diese durchaus Recht hatten.Sie denken, die Russen wollen Katyń nicht eingestehen - was meinen Sie, sind die Briten dazu bereit? Warum möchten die Engländer, die mit dieser Tragödie nichts zu tun hatten, darüber nicht reden? Ihnen wurde eingehämmert, dass die Unfehlbaren, die Guten den Krieg gewonnen haben. Wenn also nun die Guten Roosevelt, Churchill und Stalin sind, dann darf man auf keinen von ihnen spucken. Und alle wissen, dass das Böse - also Katyń - ausschließlich von den Deutschen ausging. Fahren Sie mal nach London und fragen sie nach Katyń - die Leute haben davon keine Ahnung.
cafebabel.com: Wie können diese Diskrepanzen bei der Interpretation von Fakten den Prozess der europäischen Integration beeinflussen? Können diese eine Barriere für die weitere Entwicklung der EU darstellen?
Norman Davies: Sicherlich. Bedingung für die Weiterentwicklung der Geschichtsschreibung ist jedoch die Meinungsfreiheit. Solange man nicht frei diskutieren kann, haben verschiedene gefälschte Versionen der Vergangenheit die Oberhand.
cafebabel.com: Und warum hat Putin schließlich Ihrer Meinung nach zugegeben, dass das Verbrechen von Katyń von den Sowjets begangen wurde?
Norman Davies: Das kommt daher, dass dieser wichtigste Politiker der Russischen Föderation - denn der ist natürlich Putin - sich nicht wie Breschnew oder andere Sowjets verhalten kann. Er muss ein Partner der EU-Mitglieder sein, vor allem für die Deutschen. Man darf aber nicht vergessen, dass hinter ihm jedoch ein großes Volk steht, das ganz wenig weiß. 80 % der Russen wissen nicht einmal, dass der Krieg 1939 ausgebrochen ist. Und plötzlich sehen die alle im Fernsehen, das Wladimir in Katyń auftritt, weil dort irgendwelche Jahrestagsfeierlichkeiten stattfinden. Das ist für sie eine riesige Überraschung - was ist da überhaupt los?
cafebabel.com: Wie sollte Polen auf historische Entstellungen und Provokationen reagieren? Sich beleidigt oder belehrend geben? Die Beziehungen abbrechen? So tun als wäre nichts passiert?
Norman Davies: Wenn man auf Konfrontation geht, fremde Äußerungen idiotisch nennt, versucht, jemandem seine Weltanschauung aufzuzwingen, so ist das gleichbedeutend mit dem Ende jeglichen Dialogs. Die einzige Möglichkeit ist es, eigenes Wissen zu haben, Dialog, am besten Trialog zu fördern und zu schauen, was daraus wird. Wenn die Polen die Geschichte besser kennen würden, auch die anderer Staaten, und auch, wie dort Fakten der aus Vergangenheit gefälscht wurden, würden sie auch anders reagieren.
Eure übertriebene Obsession in Bezug auf Russland provoziert Russland nur. Der russische Premier ist intelligent. Er erkennt, dass die Welt sich ändert und er deshalb auch etwas ändern sollte. Bis 1991 war der Zugang zu jeglichem Wissen beschränkt - alle Medien, Schulbücher, Literatur wurden kontrolliert. Dann kam Jelzin und organisierte einen „Tag der offenen Tür“, der zu Chaos und Anarchie führte. Zu Zeiten von Jelzin umfasste die Anarchie die Gesamtheit der russischen Realität. Sehen Sie doch, was heute mit der russischen Wirtschaft passiert - der ganze Reichtum eines großen Volkes fiel damals in die Hände von 20 Oligarchen. Die Mehrheit der Russen unterstützt Putin deswegen, da er eine relative Ordnung hergestellt hat.
Putin hat verstanden, dass plötzliche Freiheit auch Grenzen hat. Und es geht ihm überhaupt gar nicht nur um die Beziehungen zu Polen; Russland hat ähnliche Probleme mit allen Nachbarn - mit China, Finnland, den baltischen Staaten, Rumänien, Japan … alle haben Forderungen. Daher kann man von Putin keine hundertprozentige Entschuldigung erwarten - am besten noch auf Knien so wie Willy Brandt das gemacht hat. Entschuldigt sich so der Präsident der USA bei den Indianern, Afroamerikanern oder Philippinern?
Außerdem - sollte man sich für alles entschuldigen? Meiner Meinung nach sollten Politiker sich einmal ganz solide entschuldigen, damit die Sache erledigt ist und Vorwürfe sich nicht bis in alle Ewigkeit wiederholen.
Fotos: ©Latvian Foreign Ministry; ©PaulS_; ©Piotr Pawłowski; Video: Katyń © Nans1992 ; Norman Davies ©cosac84
Translated from Norman Davies – nie ma prawdy historycznej