Nina Jurisch: „Auch zwischen den Generationen muss es Streit geben“
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Die Soziologin Nina María Jurisch (Jahrgang 1989) sorgte bei „Dispute over Europe“ dafür, dass auch junge Europäer ihre Meinung sagen konnten – in Form der Diskussionsrunde „Next Generation“. Ein Gespräch über junge Meinungsführer, fehlenden Streit und darüber, warum Busfahrer einen Beitrag zur europäischen Integration leisten.
Cafébabel: Du bist das jüngste Mitglied in der Organisationsrunde von „Dispute over Europe“ und hast das Panel „Next Generation“ initiiert. Wie kam es dazu?
Nina Jurisch: Die anderen Initiatoren sind ja doch um einiges älter als ich – und größtenteils auch nur männlich. Das fand ich empörend und habe mich eingemischt, habe angeboten, mitzumachen.
Cafébabel: Und das hat funktioniert?
Nina Jurisch: Sogar erstaunlich gut! Aber: Es hat auch immer wieder zu großen Diskussionen geführt. Ich habe versucht, die Truppe auf Themen aufmerksam zu machen, die ältere Generationen einfach nicht im Blick haben.
Cafébabel: Zum Beispiel?
Nina Jurisch: Die Zusammensetzung des „Next Generation“-Panels. Meine Mitinitiatoren dachten: Da muss man doch europäische Meinungsführer finden, die vergleichbar sind mit uns damals, 1968! Ich war aber nicht davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist. Ich fand, dass man besser Studenten, Schüler und engagierte Journalisten zusammensetzen sollte, die direkt aus der jugendlichenn Perspektive sprechen können, ohne einen Expertenstatus einzunehmen. Tatsächlich habe ich mich mit Namen durchgesetzt die auf der politischen Bühne und in der Öffentlichkeit noch nicht so bekannt sind – die aber sehr wohl was zu sagen haben.
Cafébabel: Vielleicht gibt es in unserer Generation gar nicht mehr die großen Wortführer. Es sind viele, die viel zu sagen haben…
Nina Jurisch: …und es teilweise auch unterschiedlich sagen. Ich denke da ganz konkret ans Internet. Gerade in Spanien gibt es viele Bewegungen, die überhaupt nicht mehr in den typischen öffentlichen Diskursen oder Medien Platz finden. Aber sie verbreiten sich wie ein Lauffeuer übers Internet, über Youtube, die sozialen Medien.
Cafébabel: Könnte man hier von einem Generationenkonflikt sprechen?
Nina Jurisch: Ja, in der Hinsicht, dass der Meinungsstreit oder auch die Meinungsführung heutzutage in anderen Räumen stattfindet. Für junge Menschen, die noch keine Wahnsinnsbiografie hinter sich haben, ist es eben nicht leicht, einen Artikel in der Zeit zu veröffentlichen oder in der taz. Deshalb suchen sie sich ihre Sprachrohre über andere Kanäle. So entsteht Potenzial, dass sich Meinungen diversifizieren und auseinandergehen, es viele Meinungen zu Europa gibt – und nicht nur die „Pro“- und „Contra“-Fraktionen.
Cafébabel: Diskutieren und streiten wir zu wenig über Europa?
Nina Jurisch: Es gibt definitiv zu wenig öffentliche Diskussion. Die Themen, die zur Debatte stehen, werden von der Politik vereinnahmt – und das Thema Europa viel zu sehr von wirtschaftlichen Diskursen. Wenn es Streit gibt, dann spielt er sich nur innerhalb dieser Diskurse ab. Es ist absolut wichtig, zu streiten, auch zwischen den Generationen. Die Generationen vor uns haben dafür gekämpft, dass Europa heute so ist, wie es ist. Natürlich haben sie Angst davor, was passiert, wenn eine Generation nachrückt, die sich augenscheinlich nicht groß für Europa interessiert: Ist alles, wofür wir gekämpft haben, bei einer Generation in den richtigen Händen, die mit dem Gesicht im Computer hängt und nicht nach links und rechts schaut?
Cafébabel: Wenn Diskurse, wie du sagst, so vereinnahmt werden: Wie kann die Stimme der Jugend in Europa mehr Gehör finden?
Nina Jurisch: Der erste Schritt: Man muss junge Menschen ernst nehmen, ihnen zutrauen, dass sie etwas zu sagen haben und ihre Stimme Gewicht hat. Das ist wichtig, denn oft wird ja vereinheitlicht, nach dem Motto: Jugendliche in Europa sind arbeitslos, perspektivlos und zeigen kein Engagement für Politik und Europa. Für einen Kongress wie „Dispute over Europe“ würde das bedeuten, die Gruppen mehr zu mischen, Jugendliche mit den älteren Generationen zusammenzusetzen.
Cafébabel: Und der zweite Schritt?
Nina Jurisch: Es muss ein Austausch stattfinden, der nicht in politische Parteien gezwängt ist. Wie zum Beispiel wir es mit diesem Kongress versuchen, oder ihr mit Cafébabel. Darüber hinaus muss natürlich weiterhin Aufklärungsarbeit betrieben werden. Ich bin nach wie vor schockiert, wenn ich von Freunden aus meiner Generation mitbekomme, dass sie nicht einmal wissen, dass man für das Europaparlament wählen kann! Und das ist nicht nur den Jugendlichen in die Schuhe zu schieben, sondern auch der älteren Generation, die diese nächste Generation bisher noch nicht so richtig ernst genommen hat.
Cafébabel: Wann hast du dich das erste Mal als Europäerin gefühlt?
Nina Jurisch: Ich bin Tochter einer Argentinierin. Meine Mutter ist schon mit 19 nach Deutschland gekommen. Sie hat mich immer wieder auf die Unterschiede zwischen Argentinien und Deutschland aufmerksam gemacht, darauf, was die deutsche Mentalität auszeichnet – die war ihr nämlich sehr fremd. Ich denke, europäisch habe ich mich ab dem Moment gefühlt, wo ich mich verteidigen konnte, indem ich sagte: Moment, du hast mich hier geboren, ich bin hier aufgewachsen und dass ich in diesem Land großgeworden bin, bedeutet nicht, dass ich eine deutsche Mentalität habe – ich habe eine europäische Mentalität. Ich bin mit der lateinamerikanischen Kultur groß geworden, habe Spanisch gelernt, hatte Französisch in der Schule, habe dann auf Englisch studiert... Meine Familie ist über den ganzen Globus und ganz Europa verteilt! Auf den Deutschen herumzuhacken, zieht nicht.
Cafébabel: Warum?
Nina Jurisch: Weil ich mich zwar nicht als Deutsche empfinde, aber durchaus das verteidigen möchte, was ich hier mitbekommen habe. Das hat sich verfestigt, als ich ein Jahr in Buenos Aires gelebt habe um zu sehen, wo meine Wurzeln sind. Da wurde ich immer wieder auf die Deutschen angesprochen, musste Witze über den Zweiten Weltkrieg hören. Ich merkte, dass ich mich in den Momenten, wo ich als Deutsche angegriffen wurde, als Europäerin verteidigt habe. Auf dem Papier bin ich zwar Deutsche und ich vertrete definitiv irgendwie eine deutsche Kultur – aber das, wofür ich stehe, sind europäische Werte. Ich denke, das geht ganz vielen Menschen so, nicht nur Jugendlichen: Wenn sie mal außerhalb von Europa sind, wenn zwei Welten einander gegenüber gestellt werden, dann erst merken sie, was es heißt, Europäer zu sein.
Cafébabel: Hast du ein europäisches Vorbild?
Nina Jurisch: Ich habe keine konkrete Person im Kopf. Natürlich, man denkt dann sofort an solche Namen wie Robert Schuman. Aber ich habe vielmehr Vorbilder, die mir im Alltag über den Weg laufen, dort versuchen, Europa zu vereinen oder zu befördern. Ich komme aus Aachen, wo jedes Jahr der Karlspreis zur europäischen Integration vergeben wird…
Cafébabel: …den u.a. schon Wolfgang Schäuble, Angela Merkel, Jacques Delors oder Simone Veil bekommen haben.
Nina Jurisch: Um ehrlich zu sein: Ich fand die Veranstaltung immer recht affektiert. Es gab einmal die Idee, dass man den Karlspreis doch einem der Busfahrer geben könnte, die diese Euroliner jeden Tag durch ganz Europa fahren.
Cafébabel: Eine interessante Idee.
Nina Jurisch: So stark in diese Richtung würde ich nicht gehen – aber es entspricht schon meiner Idee von Vorbildern. Wer sind die Menschen, die Europa zusammenhalten? Aachen liegt an der Grenze zu den Niederlanden und zu Belgien. An der Universität in Maastricht bekam ich mit, wie offen die Menschen gegenüber ausländischen Studenten waren: Alle sprechen Englisch, man kann miteinander reden, da gibt es keinen Stress. Genauso mit den Belgiern. Die Nähe, die wir hatten, hat uns zusammenrücken lassen. Und so habe ich in Aachen gelebt und in Maastricht studiert und bin da jeden Tag hin und hergefahren – ich hatte keine Idee davon, dass ich mich gerade von Deutschland in die Niederlande bewege.
Cafébabel: Also, wer wäre denn nun für dich ein europäisches Vorbild?
Nina Jurisch: Ich denke, bei mir sind es Professoren gewesen, Lehrer in der Schule, die mir das Thema Europa nahe gebracht haben – nicht nur von den Inhalten her, sondern auch von der Art und Weise, wie sie sich in Europa bewegen, mit welchen Menschen sie sich unterhalten, welche Sprachen sie sprechen, welche Musik sie hören. Das waren diejenigen, die mich am Ende auch dazu gebracht haben, das zu studieren, was ich studiert habe – und bewirkten, dass ich mich auch weiterhin dafür interessiere.
Cafébabel: Europa in drei Worten?
Nina Jurisch: Schwierig. Erstens: Europa macht unheimlich viel Spaß. Darüber zu sprechen, es jeden Tag zu leben. Zweitens: Europa ist Streit, definitiv. Drittens: Europa ist ein einzigartiges Zivilisationsmodell. Das wären meine drei Worte. Irgendwie gehen die ganz schön auseinander (lacht).
Cafébabel Berlin streitet über Europa
Cafébabel Berlin ist offizieller Medienpartner von A Dispute over Europe. Ab dem 2. Mai könnt ihr hier Interessantes vom Kongress und Interviews mit den Panelteilnehmern lesen. Mehr Updates gibt es auf Facebook und Twitter.