Neapel: Die Vorstadt der Träumer
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Wenn die Hoffnung wirklich zuletzt stirbt, muss vorher ziemlich viel dran glauben. Der Reichtum. Die Liebe. Und auch die Träume. Doch in Scampia, dem berüchtigtsten Vorort Neapels, geben sich die Träumer noch lange nicht geschlagen. Im Gegenteil.
Eine Szene wie im Film, wenn das Böse gleich hinter der nächsten Ecke lauert: Es regnet in Strömen hier in Scampia, einem Vorort Neapels. Die Decken der heruntergekommenen Hochhäuser, die wegen ihrer Form „Vele“, also „Segel“, genannt werden, sind undicht. Regentropfen fallen von einem Metallsteg auf den nächsten, deutlich sind die aufschlagenden Tropfen zu hören, wie bei undichten Wasserhähnen. Die Stege führen von den Wohnungen zu einem Gang, der mitten im Raum über einem eigentlich überdachten Innenhof zu schweben scheint. Am Ende des Gangs geht es in die Treppenhäuser. Von außen sind die Betonklötze kaum zugänglich, nur relativ schmale Türen führen hinein. Es ist dunkel, der Verfall dennoch unübersehbar: Viele Fensterscheiben sind zerbrochen, werden aber nicht ersetzt. Türen sind kaputt.
Vor dieser Kulisse entstand vor fünf Jahren der Film „Gomorrha“, nach dem Buch des Neapolitaner Journalisten Roberto Saviano. In Scampia tobte ein blutiger Bandenkrieg, mehr als 70 Menschen starben bei Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Clans der Camorra, wie die Mafia hier heißt. Scampia wurde weltweit zu dem Symbol städtischen Verfalls. Dabei waren Verwahrlosung und mangelnde Perspektiven auch vorher schon ein drängendes Problem – und sind es noch immer. Ein Skandal, meintMirella La Magna. Die energische Frau, die schnell spricht, und sich selbst immer wieder durch lautes Lachen beim Reden unterbricht, wohnt seit 1972 in einem alten Bauernhaus, zehn Minuten zu Fuß von den Vele entfernt. „Die Medien kamen wegen der Toten auf den Straßen. Aber all die Jugendlichen, denen die Hoffnung auf ein normales Leben genommen war, ihre Träume, ihre Lebensentwürfe, das waren auch Tote, oder? Die haben aber niemanden interessiert.“
AUFWACHEN IN SCAMPIA
Mirella La Magna gründete 1981 zusammen mit ihrem 2004 verstorbenen Mann Felice das ZentrumGridas. Der aufklärerische Name, etwa „Gruppe für das Aufwachen aus dem Schlaf“, ist durchaus programmatisch gemeint. Es geht darum, Träume wahr zu machen, unter anderem mit Spraydose, Farbe und Pinsel. Die Aktivisten diskutieren, wie eine bessere Stadt aussehen könnte. Das Ergebnis malen die Aktivisten als Murales, eine Art Graffiti, an die Wände. So entstand beispielsweise an der Mauer eines alten, für die Öffentlichkeit geschlossenen Friedhofs das Bild eines zugänglichen Parks. Ihre Arbeit bezeichnen die Gridas-Aktivisten selbst als „Utopien“. Doch während Utopien normalerweise als unerreichbar gelten, glaubt Mirella La Magna an das Gegenteil: „Mein Traum, wenn er nur meiner ist, bleibt ein Traum. Aber wenn ihn viele träumen, kann man ihn in der Realität umsetzen!“ Die Geschichte gibt ihr Recht, jedenfalls manchmal: Der Friedhof ist heute öffentlich zugänglich.
Indirekt setzt Paul Schweizer diese Tradition fort. Vor vier Jahren kam der 24-jährige Student aus dem südwestdeutschen Tübingen das erste Mal nach Scampia und kehrt seither jedes Jahr für drei bis vier Monate zurück. Gleich beim ersten Aufenthalt wagte er sich mit Kindern aus dem Viertel in die Höhle des Löwen. In den Vele besetzten sie eine verlassene Wohnung, räumten auf – und bemalten die Wände mit allem, was sie sich erträumten. Anschließend spielten die Kinder mit dem gemalten Fernseher oder Bücherregal.
DIE PIAZZA: EIN SEE AUS BLUT UND SPRITZEN
Träumer, das sind in gewisser Weise auch die Aktivisten von Mammut, einer Organisation, die im Jahr 2007ihre Zelte direkt vor den Vele auf der Piazza Johannes Paul II. aufgeschlagen hat. Auf ihrem Logo hält ein Mammut einen Regenschirm und eine Blume an den Stoßzähnen, darüber der Spruch „Die Utopie lebt nicht auf dem Mond!“ Ihre Idee: Die Menschen des Viertels zusammenbringen, die Camorra zurückdrängen, alternative Aktivitäten schaffen. Auf der Piazza setzten sich damals Junkies ihren Schuss, niemand sonst kam freiwillig hierher. Sie war ein „See aus Blut und Spritzen“, erinnert sich Mammut-Gründer Giovanni Zoppoli. Die Organisation machte eine Bibliothek auf, organisierte Arzt-Sprechstunden, richtete ein Tonstudio ein, verlieh Fahrräder. Vor allem aber war das Mammut täglich geöffnet. Aus der No-Go-Area wurde ein Treffpunkt.
Doch Träume können platzen. Dem Gridas droht der Verlust der Räumlichkeiten. Im Falle des Mammut zahlt die Stadt eigentlich längst bewilligte Gelder nicht aus, schiebt laufend neue bürokratische Erfordernisse vor, sagt Giovanni Zoppoli. Das Zentrum ist deshalb seit dem Frühjahr weitgehend geschlossen, die Löhne der Angestellten konnten seit zwei Jahren nicht mehr regelmäßig gezahlt werden. Kaputte Fensterscheiben wurden nur notdürftig mit Sperrholz abgedichtet.
DIE VELE GEHEN, DIE ARBEITSLOSIGKEIT BLEIBT
Gerade in diesem Moment zeigen sich allerdings auch die Erfolge der jahrelangen Arbeit. So haben Jugendliche, die das Mammut als Proberaum nutzten, nun auf eigene Initiative ausgerechnet in der Universität neue Räumlichkeiten gefunden, berichtet Davide Zazzaro, ein Mammut-Besucher, der selbst aus Scampia stammt. Noch immer ist es nicht die Regel, dass Jugendliche aus der Vorstadt selbst aktiv werden, um sich im Stadtzentrum neue Räume zu schaffen, und an der Uni schon gar nicht. Vor ein paar Jahren wäre dieses Engagement das wohl undenkbar gewesen.
Dennoch bleibt unsicher, ob die Träumer das Viertel wirklich nachhaltig verändern können. In den letzten Jahren wurde die Camorra auch durch Verhaftungen geschwächt, auch die Vele sollen durch humanere Bauten ersetzt werden. Drei Hochhäuser wurden schon abgerissen, das Schicksal der übrigen vier scheint ebenfalls besiegelt. Aber die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, offizielle Dokumente nennen eine Quote von über 60Prozent, auch wenn wegen fehlender genauer Einwohnerzahlen und illegaler Beschäftigung belastbare Zahlen kaum zu finden sind.
DIE WELT BESSER MACHEN – FÜR EINEN KURZEN MOMENT
Ob sich langfristig durch sein Engagement etwas verändert, ist Paul aber auch gar nicht so wichtig. „Ich komme nicht hierher, weil es das krasse Viertel ist, wo man was verändern muss, sondern weil ich hier Spaß habe“, sagt er. „Ich habe auch meine Probleme, auch wenn ich finanziell natürlich in einer viel besseren Situation bin als die Kinder. Aber wenn wir gemeinsam malen, vergessen wir gleichzeitig unsere Problemchen oder Riesenprobleme.“ Und in dem Moment, so kurz er auch sein mag, meint Paul, „ist die Welt besser“.