Nach den Attentaten: Terror in der Seele
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Anita WestrupNach den schrecklichen Attentaten, die im letzten Jahr Paris erschüttert haben, litt unsere Journalistin vorübergehend an einer psychotischen Störung. Sie wollte herausfinden, was mit ihr los ist und warum sie so misstrauisch ist. Antworten hat sie im Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung gefunden. Doch damit war ihr Problem noch nicht gelöst…
Wir schreiben den 28. Dezember 2015: 5221 Tage sind nach dem 11. September vergangen, 354 Tage nach den Attentaten auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und 44 Tage nach dem 13. November. Mein Aufenthalt in Griechenland neigt sich dem Ende zu. Ich halte mein Bordkarte für den Flug AF1533 in Richtung Paris in meinen Händen bereit. Ein bisschen mehr als drei Flugstunden liegen vor mir. Das Boarding verläuft reibungslos, das Wetter spielt mit, ich kann mich nicht beklagen. Ich lasse meinen Blick schweifen und beobachte die wartenden Passagiere. Familien, Pärchen, Touristen, Geschäftsleute. Unter ihnen ein Mann mit Bart und blauem Turban. Ohne es zu wollen, stempel ich ihn sofort als „Terroristen“ ab.
Ich setze mich ins Flugzeug. Der Flug verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Die Ironie an der Sache: Als sich alle anderen Passagiere mit ihrem Handgepäck in Richtung Ausgang drängeln, lässt mich der Mann, den ich vorher als Terrorist verdächtigt habe, aus Höflichkeit vor.
Im Flughafen machen mich die bewaffneten Soldaten und die Tatsache, dass im Schengen-Raum wieder Grenzkontrollen eingeführt worden sind, stutzig. Vielleicht habe ich mir meine Psychose gar nicht eingebildet? Vielleicht hat der Terror über die Freiheit gesiegt?
Ich fühle mich lächerlich und schlecht. Mich überkommt ein Gefühl der Bitterkeit, wenn ich an diese Zeit zurückdenke. Seit wann haben mich die Medien mit ihren Bildern von gefährlichen Männern mit Bärten verseucht? Geht meine vorübergehende posttraumatische Störung auf die Ereignisse vom 11. September oder früher, auf den 13. November, zurück? Wann habe ich damit angefangen „Bart“ mit „Terrorismus“ gleichzusetzen?
Posttraumatische Belastungsstörung
Die posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, wurde besonders durch die amerikanischen Veteranen des Vietnam-, Irak- und Afghanistankrieges geprägt. Bei den Soldaten traten die Traumata erst Jahre später zu Tage. Die Belastungsstörung lässt sich an mehreren Symptomen festmachen. Das Erleben eines traumatischen Ereignisses ruft das Ausbrechen der Krankheit hervor. Die französische Stiftung zur Erforschung mentaler Krankheiten definiert die Ursachen von PTBS auf ihrer Internetseite wie folgt: „Wenn ein Mensch eine Situation erlebt oder Zeuge eines Ereignisses war, bei dem seine seelische Unversehrtheit oder die eines Nächsten aufgrund starker oder lebensgefährlicher Verletzungen bedroht wurde.“
Nach den Attentaten vom 13. November wurde in mehreren französischen Zeitungen über das PTBS-Erkrankungsrisiko berichtet. Wie steht es eigentlich um diejenigen, die die schrecklichen Bilder der Terrornacht nur in den Rundfunkmedien und im Internet gesehen haben? Kann man sagen, dass diese Menschen die Anschläge „erlebt“ haben, weil sie das Geschehen in Echtzeit in den Medien mitverfolgt haben?
Trifft die Bezeichnung „posttraumatische Belastungsstörung“ auf meine kurzlebige Psychose zu, die ich am Flughafen erlebt habe? Oder handelt es sich eher um eine „postmediale“ Belastungsstörung, die dadurch ausgelöst wurde, dass sogenannte „Informationsmedien“ permanent Bilder der Terrorattacken ausgestrahlt haben? Die „postmediale“ Belastungsstörung charakterisiert sich durch ein ungerechtfertigtes Misstrauen, eine drastisch nachlassende Gehirnaktivität, zunehmenden Vorurteilungen und eine blinde Angst, mit der man vorschnelle und falsche Schlüsse zieht.
Es hat sich etwas verändert
Vor einigen Monaten bin ich mit einem Touristenvisum nach New York gereist. Ich erinnere mich noch an diesen Spätnachmittag, an dem ich gerade in den Metroschächten steckte und in die Linie „R“ umsteigen wollte. Plötzlich hörte ich einen Lärm. So als ob jemand gerade einen Böller zündet. Ich bin weitergegangen und habe nicht weiter darauf geachtet. Ich erinnere mich auch noch an die Stimme eines Mannes, der schrie: „It’s not a shot !“, es ist kein Schuss. Das rätselhafte Geräusch hat ein paar spontane Reaktionen und ein bisschen Gedränge hervorgerufen. Die meisten New Yorker haben ihren Weg jedoch nach dem Zwischenfall unbeirrt fortgesetzt. In diesem Moment musste ich an Paris denken und ich weiß noch, welcher Gedanke mir durch den Kopf schoss: „So ein Verhalten wäre in Paris unvorstellbar“. Auf die New-Yorker Bevölkerung wurde ein brutales Attentat verübt. Die gesamte amerikanische Gesellschaft wurde durch die Waffenkultur geprägt. Schusswaffen gehören zum Alltag, auch am Big Apple. Schießereien in der Metro sind keine Seltenheit. Und in Paris, an was würde ich oder andere denken, wenn der Klang eines Böllers ertönt? An eine Schießerei? An eine Bombenexplosion?
Am 13. November ist das Unvorstellbare Realität geworden. Präsident François Hollande ahnte bestimmt nicht, dass sein Slogan für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2012 - „die Veränderung, [war] jetzt“ - einmal einen so bitteren Nachgeschmack hinterlassen würde.
Seit den Attentaten hat sich etwas verändert: Mir ist bewusst geworden, dass ich eine Zielscheibe bin. Wer hätte gedacht, dass „jetzt“ so schnell kommen würde?
Translated from Après les attentats, le stress post-médiatique