Mythos Osten - was bleibt?
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Als vor 25 Jahren die Berliner Mauer fiel, wagte man – wagten wir – von einem Europa wie es heute existiert, kaum zu träumen. Ganz klar: Es ist leichter Mauern aus Stein niederzureißen, als Vorurteile in den Köpfen abzubauen. Was ist vom „Mythos Osten“ geblieben? Vier Europäerinnen berichten.
Weltwissen meint westliches Wissen
Monika ist 24 Jahre alt. Sie ist in Wien geboren und pendelte in ihren ersten zwei-drei Lebensjahren monatlich zwischen Südpolen und Wien. Sie studiert Deutsch und Philosophie/Psychologie auf Lehramt an der Universität Wien. Als Studentin fällt ihr eine gewisse Verachtung dem Osten gegenüber auf: „Wo von Literatur aus der romanischen Sprachgruppe die Rede ist, kommt niemand auf die Idee, über rumänische Autor/innen zu sprechen.“ Geschichte und Kultur slawischer Länder würden ebenso ausgeblendet, wenn von europäischen Strömungen und Errungenschaften die Rede sei. „Weltwissen meint westliches Wissen und Europa ist alles – nur nicht der Osten.“
Joana, 1995 in Shijak in Albanien geboren, lebt heute in Bozen und studiert seit Kurzem in Bologna an der renommierten Kunstakademie. Auch für sie ist der Eiserne Vorhang noch nicht gefallen: „Er hat nur das Material gewechselt“; sagt sie. „Er ist heute gläsern und leicht zerstörbar – der echte Eiserne Vorhang existiert weiterhin in unseren Köpfen“.
Katharina wurde 1987 im polnischen Tarnów geboren und studiert Slawistik und historische Sprachwissenschaft an der Universität Wien. Ihrer Ansicht nach ist vor allem die Auffassung der Generation 40+ von Vorurteilen geprägt: „Das merkt man vor allem am Gefälle in der Arbeitswelt. Viele Menschen, die gut ausgebildet sind und aus dem 'Osten' kommen, sind in Berufen beschäftigt, die nicht mal ansatzweise ihren Fähigkeiten entsprechen.“ Prinzipiell werde Menschen aus Ostgebieten nachgesagt, sie kennen keine Zivilisation und seien technisch im Rückstand.
Für Anja, 1988 in Cottbus geboren, ist der Osten in erster Linie eine Konstruktion: „Der „Westen“ konstruiert ihn als einen homogenen Raum, der hinter der Oder-Neiße-Grenze beginnt und irgendwo in 'Asien' übergeht. Das Ziel ist immer eine Art Evolution, um zu werden wie der Westen.“ Anja studiert derzeit in Berlin, als Ostkind im ehemaligen Westen. Als wünschenswert erachtet sie ein heterogenes Bild auf beiden Seiten, doch: „in meiner Eltern-Generation (zwischen 1960- und 1965 geborene) ist die Grenze eine Konstante, welche meiner Ansicht nach auch nicht verschwinden wird. Nicht einmal verschwimmen.“
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Ost-West-Wo?
Dabei stellt sich natürlich die Frage, was der Osten überhaupt ist – ganz banal, geografisch. „Ich bin in Wien aufgewachsen und für Wiener fängt der Osten schon in der Slowakei, in Tschechien und in Ungarn an“, berichtet Katharina. Sie habe diese Definition für sich gültig gemacht. „Die Umgebung prägt eben“, meint sie. Dabei gebe es ganz verschiedene „Osten“: Die Slowakei, Tschechien und Polen seien weniger Osten, die Ukraine befinde sich im Mittelfeld. „Ungarn ordne ich subjektiv in das 'weniger Osten' ein, obwohl es für mich nicht so sehr 'Westen' ist wie die Slowakei, Tschechien oder Polen“. Definitiv Osten sind für Katharina Moldawien, Rumänien und Bulgarien. „Russland ist schwierig. Einige Regionen wie etwa St. Petersburg und Moskau sind mehr westlich, doch tendenziell ist das für mich schon Osten“. Kein schwarz-weiß also, dafür viele Graustufen, die ein fast schon buntes Bild ergeben.
Für Monika liegt die Sache anders: „Der Osten sind die Länder des ehemaligen Ostblocks. In erster Linie denke ich hier an die Slawen, wobei ich Russland nicht als Teil des coolen, europäischen Ost-Clubs ansehe. Die Zeiten von Mickiewiczs und Puschkins kuscheliger Freundschaft sind eindeutig vorbei.“
Joana sieht im „Osten“ ein recht zwiespältiges Konstrukt: Für sie sei der Osten der unbekannte Teil der Welt. „Er scheint entfernt und unberührbar, aber in Wirklichkeit ist er die nächstgelegene Realität, die wir haben“.
EU – was nun?
Häufig wird die EU als Retterin aller „armen“ Länder und auch der ehemaligen Ostblock-Staaten dargestellt. Die Erweiterung von 2004 sorgte für Angriffe vor allem aus dem rechten politischen Lager und vonseiten verschiedenster EU-Kritiker/innen. Flüchtlingsströme wurden prophezeit, die nie eintraten, der Populismus erlebte eine seiner regelmäßigen Blütezeiten.
„Die EU sehe ich als wirtschaftlichen Bund, der Potenzial dazu hätte, eine europäische Identität zu schaffen, obwohl ich nicht eine Identität befürworte, die nur ökonomische Ziele im Blick hat“, glaubt Monika. Sie beobachte im kulturellen Bereich die Dominanz des Westens und die Herablassung der reichen Staaten gegenüber ärmerer Länder gleichsam wie die Herablassung der gesamten EU auf Länder, die ihr noch nicht beitreten könnten. „Hier werden neue Hierarchien geschaffen und alte unterstützt“, meint sie.
Auch Katharina hat ihre klare Vorstellung von EU: Sie solle ein Bund zwischen europäischen Ländern sein, der dafür sorgt, dass jedes Mitgliedsland den gleichen Status hat. In Realität trifft das natürlich nicht zu. EU hat etwas von Freiheit, vor allem für meine Elterngeneration. Für mich ist sie schon irgendwie Alltag, für meine Eltern die Verwirklichung ihrer Träume – zumindest im Faktor Freiheit, finanziell eher nicht“.
„Für mich ist die Europäische Union eine Utopie“, meint Joana dazu. „Mich ärgert die Teilung und Unterscheidung der Welt – was bringt es, arme Länder als „Dritte Welt“ zu bezeichnen? Warum müssen wir uns ständig von anderen abgrenzen? Eine friedliche Welt ist vielleicht eine Illusion, aber im Kleinen müssen wir für diese Illusion kämpfen.“
Anja hat gerade ihre Erfahrung durch den Europäischen Freiwilligendienst in Polen geprägt: „Ich bin mutiger geworden und denke bei Entscheidungen bzgl. Studien-, Wohn- Arbeitsort aus europäischer Perspektive. Ich bin dankbar dafür mit so wenig Grenzen zu leben.“ Für sie ist es unverständlich, dass in Deutschland wieder nach militärischen Investitionen gerufen wird. „Nur Bildung bringt Frieden, aber um den scheint es gerade nicht zu gehen.“
Mythos Osten – nein, tot ist er noch lange nicht, aber wie Monika meint: „Mir selbst ist der Osten das Bekannte in der Fremde und Österreich das Befremdliche in der Nähe.“