Mobil, offen und kreativ: Tiranas Generation Zukunft
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Selina GlaapMit ihren Schottenmustern, Lounge-Musik und klassischer Deko erinnert die Radio Bar an Szenebars wie man sie aus Berlin, London oder Paris kennt. Wir befinden uns jedoch in Tirana (700.000 Einwohner), der Hauptstadt von Albanien, einem Land, das im Westen zum größten Teil mit Armut verbunden wird.
Da die Welt das Land der Adler größtenteils ignoriert, hat die albanische Jugend nicht Däumchen gedreht, sondern ist von sich aus ins Unbekannte aufgebrochen, um anschließend mit neuen Ideen in die Heimat zurückzukehren.
Seit Dezember 2011 brauchen die Albaner kein Visum mehr, um in Europa reisen zu konnen. Doch auf Druck von Deutschland, Frankreich und den Niederlanden hin, hat sich die europäische Kommission das Recht vorbehalten, diese neue Regelung wieder zurücknehmen zu können, sollte „Missbrauch“ festgestellt werden. Erion, 26 Jahre alt, macht eine ironische Bemerkung über die Angst der illegalen Einwanderung: „Die Regierung hat eine Kampagne lanciert, um die Leute dazu aufzufordern nicht länger als die erlaubten 90 Tage im europäischen Ausland zu bleiben. Das ist doch lächerlich, keiner will illegal in einem Land leben!“ Nachdem er sechs Jahre in Rom gelebt hat, um Film und Fernsehen zu studieren, ist Erion im Oktober 2010 nach Tirana zurückgekehrt. Seit einigen Monaten ist er Filmcutter für einen jungen albanischen Fernsehsender. „In Italien wurde ich gut bezahlt, aber ich arbeite lieber hier. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind hier einfacher und ich habe weniger das Gefühl nur ein Objekt vom Fließband zu sein“, sagt er.
Arbeit, Familie, Heimat
Ähnlich wie Erion sind viele junge Albaner zum Studieren an europäische Universitäten gegangen. Einige sind dauerhaft in ihrem Gastland geblieben, aber viele kommen auch zurück. „In den 1990er Jahren haben fast alle Jugendlichen Albanien verlassen“, erklärt Ermira Danaj, eine junge Hochschullehrerin, die Soziologie und feministische Theorien unterrichtet. „Ab 2000 kam dann jedoch die Welle der Rückkehrer.“ Nach dem Abi ist Ermira 1994 zum Studium nach Lausanne gegangen. Allerdings nicht unbedingt freiwillig: „Mein Vater war Journalist und er hat Artikel über die damalige Regierung geschrieben. Man gab mir zu verstehen, dass es für mich schwierig werden würde hier zu studieren.“ An die 8 Jahre, die sie in der Schweiz verbracht hat, hat Ermira zwiespältige Erinnerungen. „Um sich zu integrieren, musste man seine albanische Identität zum Teil ablegen. Am Ende habe ich mich gefragt, warum ich an der Garderobe eines Nachtclubs mein Geld verdienen soll, wo ich doch genauso gut nach Albanien zurückgehen konnte, um in meinem Beruf zu arbeiten."
Innerhalb von einem Jahrzehnt hat sich Tirana sehr verändert. Das ehemalige Viertel der Apparatschiks [Bezeichnung für russische Parteifunktionäre; A.d.R.] hat sich zu einem Treffpunkt der modebewussten Jugend Tiranas verwandelt. Die Radio Bar ist eine der bekanntesten Adressen. Hier beginnen viele politische Diskussionen. Trotzdem müssen sich viele Jugendliche großen Problemen wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsmangel stellen. In einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung jünger als 30 Jahre alt sind, können nur wenige aus dem elterlichen Nest flüchten. Oft ist es das berühmte Vitamin B über Eltern oder Kontakte, welches am Ende zum gewünschten Job führt.
Schattenwirtschaft oder die Tragödie der Albaner
Die 23-jährige Bora ist optimistischer eingestellt: „Ich glaube wir sind momentan an einem für das Land historisch wichtigen Punkt angelangt. Entweder akzeptieren wir die aktuelle Situation und die Verweigerung einer wirklichen Demokratie, oder wir sorgen dafür gehört zu werden.“ Die junge Architektin ist letzten Sommer nach Tirana zurückgekehrt, nachdem sie in Kanada und Argentinien studiert hatte. Einige Monate nach ihrer Ankunft in Tirana baute sie ein Kollektivu mit ihren Architektenfreunden auf und arbeitete mehrere Monate für ein Institut, das sich um städtische Entwicklung kümmert. Und sie singt in einem Chor.
Heute träumt sie davon ihr Studium in Spanien fortzuführen und zwischen Tirana und einer europäischen Stadt zu pendeln. „Nach sechs Jahren Distanz musste ich zurückkommen, um herauszufinden, ob ich mir meine Zukunft hier vorstellen kann. Tirana hat diese Atmosphäre, diesen ruhigen Lebensstil, der es einem ermöglicht viele Dinge gleichzeitig zu machen.“ Bora versteckt ihre patriotischen Gefühle nicht: „Ich glaube wir sind viele, die mit dem Wunsch zurückgekommen sind diesem Land, das sich im Übergang befindet, zu helfen. Diese Stadt gibt einem gute Möglichkeiten, die man aber selbst nutzen muss.“ Außerdem müsse man sich über die Schattenwirtschaft hinwegsetzen: „Oft wird man bei uns zum Beispiel bar auf die Hand bezahlt. Und um Geld für ein Projekt zu bekommen, muss man nicht selten mit Geschäftsmännern zusammenarbeiten, von dem man weiß, dass sie fragwürdige Geschäfte machen. Also was tun? Wenn man das akzeptiert, findet man es hinterher normal. Das ist die Tragödie vieler junger Albaner.“
„Die Jugendlichen sind zu passiv“
Um Antworten auf die Fragen zu finden, die sich viele Jugendliche in Albanien stellen, muss man die Schwelle einer hübschen gelben Villa im Zentrum von Tirana überschreiten. Es handelt sich um den Sitz der Rinia Aktive (Active Youth Forum), eines unpolitischen Vereins, der es sich zum Ziel gemacht hat, die Energien der albanischen Jugend zu bündeln. „Das Problem ist, dass die Jugendlichen hier zu passiv sind. Sie mischen sich nicht genug in das öffentliche Leben ein“, bedauert die 21-jährige Kostalda. Obwohl er erst vor zwei Jahren gegründet wurde, hat der Verein, der heute bereits 17.000 Mitglieder zählt, schon mehrere politische Initiativen angeschoben. Er übt Druck auf die Politiker aus, damit diese mehr auf die Interessen der Jugend eingehen, leitet Gesprächsrunden über die Organisation der weiterführenden Schulen oder fördert Schülerbegegnungen in Rom usw. Außerdem will Rinia Aktive einen Fünfjahresplan einführen, um den Einfluss der Jugend durch Seminare und Medientraining zu vergrößern und dabei einen gewissen Abstand zu den politischen Parteien zu wahren. Mit großem Enthusiasmus erklärt Kostalda, dass sie gerne in die Politik gehen würde, aber: „Nicht jetzt, sondern erst wenn sich die Situation verändert hat.“ Die albanische Jugend ist trotz der scheinbaren Gemächlichkeit reifer, offener und zielsicherer als die alternde Gesellschaft und die Politik, die deren Schicksal lenkt."
Dieser Artikel ist Teil unserer Reportagereihe Orient Express Reporter 2010/ 2011 im Balkan und der Türkei.
Fotos: Homepage Rinia Aktive ©Simon Benichou; Architektur (cc)Davduf/flickr; Stalin (cc)Only Tradition/flickr;
Translated from Tirana : mobile, ouverte et créative, la nouvelle génération monte sur scène