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Mittelmeer: Sammelbecken für (Alb)Träume

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Kultur

Das Mittelmeer gilt als Wiege der Zivilisation. Unzählige Dichter und Denker haben die mediterranen Traumlandschaften versucht einzufangen. Heute aber werden an Traumstränden tote Kleinkinder angespült. 

Schon Goethe träumte vom Mittelmeer als dem „Land, wo die Zitronen blühen". In seinem Gedicht "Mignon" von 1795/96 zieht es ihn, wie viele mitteleuropäische Sommerurlauber auch, genau dorthin. Sein Gedicht schließt mit den Zeilen: "Dahin! Dahin! Geht unser Weg, o Vater, laß uns ziehn!".

Auch der Dichter Eichendorff drückte seine "Sehnsucht" nach dem Mittelmeer in seinem gleichnamigen Gedicht von 1825 aus. Außer seinem milden Klima, der vielfältigen Flora und Fauna steht das Mittelmeer vor allem für seine kulturelle Vielfalt: das gilt genauso für die Vielfalt der Sprache, wie für die beliebte mediterrane Küche. Einer der frühesten Texte über das Mittelmeer ist sicherlich Homers Odyssee, der geographischen Lücken zum Trotz werden in ihr doch die wichtigsten Aspekte des Mittelmeers konzipiert: ein mythischer Raum, in dem sich das Menschsein verliert und am Ende doch findet.

Doch angesichts der heutigen Migrationskrise scheint die Versinnbildlichung des kühlen Nass zwischen Afrika und Europa aus den Fugen geraten. Das Mittelmeer ist nicht mehr, was es einmal war; oder besser gesagt, was wir träumten, dass es wäre: eine Sommerlandschaft voll morgenländischer Düfte, in denen wir beruhigt die Seele im Azurblau baumeln lassen können.

Während die Bewohner nördlicherer Gefilde Europas sich das Mittelmeer als einen romantischen Raum erträumten, gab es in näher gelegenen Regionen schon immer die Idee einer Politunion. Der 1945 verstorbene französische Dichter Paul Valéry zum Beispiel träumte von einer "mediterranen Zivilisation", zu der nicht nur Spanien, Frankreich und Italien gehören sollte, sondern auch die Länder des Maghreb und des Nahen Ostens.

"Ich habe das Mittelmeer leidenschaftlich geliebt", beginnt Fernand Braudels Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. Bezeichnend ist, dass Braudel zum ersten Mal einen geografischen Raum in den Mittelpunkt der historischen Betrachtung gestellt hatte.  

Es könnte sein, dass die führenden EU-Politiker 1995 von Braudel inspiriert waren, als sie ankündigten, im Mittelmeer mit der Erklärung von Barcelona eine "Zone der Freiheit und Stabilität" schaffen zu wollen. Nicolas Sarkozy jedenfalls berief sich direkt auf Braudel, als er 2008 die "Union für den Mittelmeerraum" gründete, die angesichts aktueller menschlicher Dramen durchaus auf der Stelle zu treten scheint.

Mittelmeerraum: Sammelbecken für romantische und politische Träume

Das Mittelmeer ist ein widersprüchlicher Raum mit doppeltem Gesicht. Davon ist auch der französische Mittelmeerspezialist und Autor Thierry Fabre überzeugt. Es werde entweder als zerklüfteter Raum der Widersprüche wahrgenommen oder als eine erträumte Einheit, in der sich unterschiedliche Völker zu einer gemeinsamen Zukunft vereinen. Eines sei sicher, so Fabre, der Mittelmeerraum besitze ein reiches kulturelles Gedächtnis, das von vielen Konflikten und Begegnungen gezeichnet wurde.

Das Mittelmeer zu denken, fordert der Spezialist, bedeute, es in seiner Komplexität zu erkennen. Es müsse aufgehört werden, sich in die Logik eines Entweder/Oder zu flüchten. Die Spanne zwischen Arm und Reich, zwischen dem Norden und dem Süden ist enorm. Das Bruttoinlandsprodukt der Mittelmeerländer ist mager: sie produzieren lediglich 5 Prozent von dem, was die anderen Länder der EU leisten. Demographisch sieht es genau umgekehrt aus: der Süden wächst, der Norden schrumpft.

Eine weniger schwarz-weiß-malerische Analyse des Mittelmeerraumes lieferte der Schriftsteller Blaise Hofmann 2009 mit seinem Buch Notre Mer [Unser Meer], in dem er seine Reise gegen den Uhrzeigersinn rund um das Mittelmeer erzählt: von Marseille nach Marseille. Der Mittelmeerraum, so Hofmann, verdiene es, dass wir uns um ihn bemühen. Anstatt unsere vagen Träume in diesen Raum zu senden, sollten wir anfangen, uns dem realen Raum zuzuwenden.

In diesem realen Raum kamen in den letzten Jahren tausende Menschen ums Leben. Nur wenig ist heute von den beschwörenden Worten Goethes zu erkennen, der das eine im anderen suchte:

Wer sich selbst und andere kennt,

Wird auch hier erkennen:

Orient und Okzident

Sind nicht mehr zu trennen.