Merkel verpasst Kernenergie den grünen Laufpass
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In der Nacht zum Montag hat sich die schwarz-gelbe Bundesregierung auf den Ausstieg aus der Atomkraft geeinigt. Spätestens 2022 wird demnach das letzte der 17 deutschen Kernkraftwerke stillgelegt. Das ist zukunftsweisend und wird der deutschen Wirtschaft einen Innovationsschub geben, meinen die einen Kommentatoren, während andere um Europas Energieversorgung fürchten.
Aftonbladet: Berlin weist den Weg; Schweden
Mit dem Atomausstieg übernimmt Deutschland wenigstens in der Energiefrage die Vorreiterposition, die dem Land in Europa zukommt, lobt die linke Boulevardzeitung Aftonbladet: "Deutschland ist die viertgrößte Industrienation der Welt, die größte Wirtschaft in Europa, und die hat sich entschieden nun voranzugehen. Die gestrige Entscheidung enthält einen Vorstoß für erneuerbare Energien sowie Energie-Effizienz, der ohnegleichen ist. Die Financial Times schreibt, dass die deutsche Abwicklung der Atomkraft einen europäischen Boom für die Nutzung erneuerbarer Energien und für Energieeinsparungen auslösen wird. ... Die Umstellung erfordert massive Investitionen, wird aber auch zu höheren Strompreisen führen. Energie-Effizienz ist deshalb besonders wichtig. Forschungen zeigen, dass Deutschland seine Energiekosten um 10 bis 20 Prozent senken kann durch Effizienzsteigerungen. ... Deutschland hat in der jüngsten Vergangenheit immer häufiger abgewartet und sich geweigert, die führende Rolle zu übernehmen, die Europa von seinem stärksten Akteur erwartet. Jetzt tut das Land genau das in der Energiefrage." (Artikel vom 31.05.2011)
Polityka: Grüne Energie ersetzt Kernkraft; Polen
Der Atomausstieg Deutschlands bis zum Jahr 2022 ist durchaus mutig, aber aufgrund seiner innovativen Wirtschaft machbar, findet die Onlineausgabe des Nachrichtenmagazins Polityka: "Deutschland hat sich also entschlossen, die Atom-Ära in seinem Land zu beenden - und das, obwohl sie 17 Kraftwerke gebaut haben und mit ihnen 23 Prozent des notwendigen Strombedarfs im Land decken. Sie haben für diesen gewaltigen Schritt den Mut gehabt, doch es bleibt die Frage: Wie geht es jetzt weiter? Das Ziel ist klar und übrigens schon längst genau beschrieben: auf Grüne Energie setzen. Geht das denn? Es sieht so aus, dass es im Fall von Deutschland möglich ist. Schon heute ist Deutschland der unangefochtene Marktführer in Europa bei der Nutzung erneuerbarer Energiequellen." (Artikel vom 31.05.2011)
De Tijd: Wirtschaft kann von Ausstieg profitieren; Belgien
Die Entscheidung Deutschlands für den Atomausstieg ist legitim, bedeutet aber auch eine Herausforderung für die Wirtschaft, meint die Wirtschaftszeitung De Tijd: "Der Unfall in Fukushima hat gezeigt, dass Kernenergie nie hundert Prozent sicher ist. Stresstests können das Risiko von Atomkatastrophen im besten Falle nur verringern, aber nie ganz ausschließen. Dass die deutsche Bevölkerung nicht bereit ist, dieses Risiko einzugehen, ist ihr gutes Recht. Aber das Land muss dann auch alle Folgen akzeptieren. Es wird eine große Herausforderung, die Energieversorgung zu einem akzeptablen Preis zu sichern, ohne dass die Wettbewerbsposition der deutschen Unternehmen geschwächt wird. Die Entscheidung, 2022 aus der Kernenergie auszusteigen, bietet den Vorteil der Deutlichkeit. Das kann den Sektor der erneuerbaren Energien enorm stimulieren und die Suche nach Techniken fördern, um konventionelle Kraftwerke umweltfreundlicher zu machen. Wenn Deutschland das gelingt, kann es einen Vorsprung gegenüber anderen Ländern erreichen." (Artikel vom 31.05.2011)
Blog Géopolitique: Deutsche Ökos importieren Atomstrom; Frankreich
Der Atomausstieg Deutschlands ist wahlkampfbedingt, scheinheilig und wird Europa schwächen, meint Pierre Rousselin in seinem Blog Géopolitique: "Angela Merkel setzt angesichts des Absturzes ihres Koalitionspartners, der liberalen FDP, auf eine Zusammenarbeit mit den Grünen. Dieses politische Kalkül hat Auswirkungen auf ganz Europa. Unser Kontinent gibt seine gesamte energiepolitische Unabhängigkeit für geraume Zeit auf. Wir werden noch abhängiger von Russland und seinem Erdgas. Frankreich wird noch mehr Strom exportieren, und das ist der Gipfel der Scheinheiligkeit: Unsere Atomkraftwerke werden bei den deutschen Ökos für Licht und Wärme sorgen. Ganz zu schweigen von der Reduktion der Treibhausgase, die schon niemand mehr für wichtig hält." (Artikel vom 31.05.2011)
Die Welt: Ökodruck gefährdet Demokratie; Deutschland
Die deutsche Regierung hat zwei Monate nach Fukushima den endgültigen Atomausstieg beschlossen. Die konservative Tageszeitung Die Welt schäumt vor Wut, dass bei diesem Tempo die Demokratie beschädigt wird: "Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts ... hält das Moratorium, das die Zauberin Angela Merkel ein paar Tage nach Fukushima wie ein Kaninchen aus dem Hut zauberte, für eine 'illegale Maßnahme'. ... Und niemand scheint sich wirklich darüber zu empören, dass das von Frau Merkel berufene Gremium zum Durchdrücken des Ausstiegskurses frech 'Ethikkommission' genannt wurde. ... Wenn ein so starker Gründungsstaat der EU wie die Bundesrepublik Deutschland einen neuen Energiepfad für Europa und die ganze Welt will, dann wäre es unabdingbar gewesen, dieses Unterfangen auf europäischer Ebene anzugehen. ... Es entsteht gerade eine unheilige Allianz zwischen denen, die endlich einmal richtig durchregieren wollen, und denen, die sich die Entmachtung von Parlament und Öffentlichkeit durch einen moralisch hochgerüsteten Ökodruck herbeisehnen." (Artikel vom 31.05.2011)
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