Mehr essen, länger trinken: Anticafe Paris
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Derzeit boomen neue Kaffeehauskonzepte. Neben Lokalen, in denen man Katzen streicheln kann gibt es jetzt in Paris auch eins, in dem man nach Zeit bezahlt, nicht für das Konsumierte. Das neue Café de Flore für Möchtegernarbeitstiere? Ein Besuch.
Kurzer Blick auf die Uhr: seit zehn Minuten sitze ich hier, macht also 70 Cent etwa. Schneller Blick in den Geldbeutel: etwas über 4 Euro, ich kann hier also noch eine knappe Stunde bleiben. Ich bin weder im Sonnenstudio, noch in der Wäscherei oder beim Autoscooter, sondern in einem Café. Gemein haben die anderen Orte mit dem Anti-Café im Schwulenviertel Marais in Paris eins: Nach der Uhr wird hier geblecht und nicht nach dem Konsum. Bedeutet: vier Euro die Stunde und so viel heiße, kalte Getränke und Kuchen, wie der Magen begehrt. Flatratetrinken und All-You-Can-Eat-Asiaten kennt jeder. Die Idee, dieses Zahlungssystem auf ein Café anzuwenden, gibt es jedoch erst seit August 2011 und kommt aus Moskau. Im April dieses Jahres gibt es das auch in der französischen Hauptstadt.
Aber das Zahlungssystem allein ist noch nicht alles: das Lokal wirbt damit, „vollkommen anders zu sein“, ein zweites Zuhause, wo man sich amüsieren und arbeiten kann. Außer Getränken und Snacks wird hier Wifi gestellt. Man kann den Drucker sowie den Beamer benutzen, seine Meetings und Präsentationen an einem großen Massivholztisch abhalten und, ach ja, man kann hier auch Leute kennenlernen. Das jedenfalls verspricht die Website. Einen gemütlichen Sonntagnachmittag Anfang Dezember stellt sich der Besucher so also vor. Trugschluss: entspannte Atmosphäre. Betritt man die Stube und zieht die Tür nicht hinter sich zu, schreit die Meute laut auf, denn mittelkalte Winterluft strömt in den großen Raum – zumachen steht doch draußen groß dran! Willkommen im eigenen Heim also. Einchecken geht anschließend so: auf einer Chipkarte wird die Ankunft gespeichert, dann darf man sich setzen, vorausgesetzt man findet einen Platz, denn vor allem am Wochenende ist es hier voll.
Grundsätzlich gilt folgendes: oben im Erdgeschoss kann man sich an einem Regal mit Brettspielen und Büchern bedienen, gleich daneben findet man die Bar, auf der Weckgläser gefüllt mit Dingen für den kleinen Hunger stehen: Blechkuchen, Madeleines, Salzstangen, Chips und Erdnüsse – aber auch damit können sich die mit den großen Augen den Bauch vollschlagen. Der Kampf um den Inhalt des Kühlschranks erinnert an die WG zuhause, man greift hier sehr höflich aber doch bestimmt zu und kriegt mit ein bisschen Glück noch einen Schluck Holunderlimonade oder ein paar Blätter Salat ab. Und was ist mit Alkohol? "Den kann man abends selbst mitbringen. Das ist ja auch unser Prinzip: eigenes Essen und Trinken ist willkommen.", sagt einer der Gründer.
Die italienische Kaffeemaschine darf der Besucher nicht bedienen – und rutscht dabei mental von der Studenten-WG in den elterlichen Haushalt zurück – dafür bekommt er von der spanisch sprachigen Bedienung einen großen Café Crème zubereitet. In der darunterliegenden „Cave“ herrscht reines Arbeitsklima, von Loungemusik untermalt. Studenten sitzen um den großen Holztisch herum, machen Picknick und haben Hefte und Mac aufgeschlagen, Diagramme flackern auf den Bildschirmen.
Die Kundschaft entspricht hier der Marke BWL und Design Student zwischen 20 und 30, ein bisschen modisch, manchmal arty gekleidet, aber nicht zu viel. Zugeknöpfte Hemden und Hornbrillen erinnern an das Berlin vor fünf Jahren und passen sich an ihre Umgebung an: graue Loungemöbel, helle Holztische im Kontrast zu dunklen Ikeaablagen, ein paar Pflanzen am Fenster und sogenannte Vintage-Accessoires im ganzen Raum verteilt. An der Wand: Neon auf Leinwand zum Verkaufen und die obligatorische Uhr, die nicht mehr funktioniert.
Die Zeit vergisst man hier nämlich schnell. Man ist ja zum Arbeiten hergekommen und das wird einem so komfortabel wie möglich gemacht – das ist schön. Schade aber, dass das Lokal mit etwas wirbt, das es gar nicht hat: Andersartigkeit. Außer dem Zahlsystem ist hier nichts innovativ. Kaum jemand liest oder bedient sich an dem karg gefüllten Bücherregal, Gesellschaftsspielende wirken hier als Menschen, die sonst nichts anderes zu tun haben. Die Gespräche kreisen um das Druckerpapier, das ausgegangen ist oder um den geliehenen Filzmarker – nicht mehr, nicht weniger.
"Man kann die Leute nicht zum Reden zwingen", sagt einer der Gründer. Das stimmt. Aber man kann eine Atmosphäre schaffen, in der sich der Besucher wirklich zuhause fühlt und dann mit anderen in Kontakt kommt - an einem Ort, der nicht automatisch mit Arbeiten verbunden wird. Das Konzept ist sicher rentabel, hält aber nicht das, was es verspricht. Ein Ort für Arbeitsplatzlose und Freelancer, nicht aber für Leute, die von der angekündigten Innovation wirklich was erwarten. Und kein neues Café Flore.
AntiCafé, 79 rue Quincampoix, 3e. Montag bis Freitag von 9 bis 23 Uhr. Samstags und sonntags von 10 bis 24 Uhr. +33 (0)1 73 73 10 74